Wie du Gehörlose in ihrer Lebenswelt abholen kannst

MEDWING
August 20, 2024

Welche Möglichkeiten du als hörende Pflegekraft hast, mit Gehörlosen umzugehen, erfährst du hier.

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    Es gibt Senioreneinrichtungen speziell für gehörlose Menschen. Aber manchmal möchten Pflegebedürftige in ihrem Wohnort bleiben. Oder die Angehörigen wünschen sich eine ortsnahe Lösung. Dann bleibt möglicherweise nur die Unterbringung in einem auf Hörende zugeschnittenen Alten- und Pflegeheim. Dort leben Gehörlose häufig isoliert. Die wenigsten Hörenden beherrschen die Gebärdensprache. Welche Möglichkeiten du als hörende Pflegekraft hast, mit dieser Situation umzugehen und wie die Kommunikation gelingen kann, erfährst du hier.

    Ältere Menschen möchten wahrgenommen werden. Das gilt auch für Gehörlose. Es gibt Seniorenheime, die auf „Sprechende Hände“ spezialisiert sind wie das Peter-Kuhn-Haus in Duisburg-Meiderich. Damit die Kommunikation zwischen hörenden Pflegenden und gehörlosen Bewohner:innen reibungslos funktioniert, lernen alle Pflegekräfte einmal pro Woche DGS – die Deutsche Gebärdensprache.

    In regulären Seniorenheimen liegt der Fokus auf hörenden Bewohner:innen. Ein einzelner nicht-hörender Mensch, der in einem Altenheim mit Hörenden lebt, hat es schwer, Anschluss zu finden. Zwar ist es möglich, sich durch Körpersprache, Gestik und Mimik miteinander zumindest bruchstückhaft zu verständigen. Aber das erfordert Aufgeschlossenheit und Geduld auf Seiten der Hörenden und der Nicht-Hörenden. Schlimmstenfalls zieht sich die/der gehörlose Bewohner:in irgendwann zurück.

    Erfahrungen gehörloser Menschen

    Damit das nicht passiert, ist es wichtig Brücken zu bauen. Gehörlose Menschen sind Angehörige einer sprachlichen und kulturellen Minderheit in Deutschland. Sie haben eine eigene Geschichte und eigene – oft zutiefst schockierende – Sozialisationserfahrungen:

    • Vielleicht sind sie als gehörloses Kind in einer hörenden Familie aufgewachsen. Oder die gesamte Familie war gehörlos. Erfahrungen wie diese verbinden.
    • Möglicherweise liegt eine lange Geschichte von gescheiterten Kommunikationsversuchen mit der Welt der Hörenden hinter der/dem Bewohner:in.
    • Im zweiten Weltkrieg wurden Gehörlose diskriminiert und zwangssterilisiert.
    • In der Nachkriegszeit kam es bundesweit zu Misshandlungen gehörloser Kinder: In Heimen, sogenannten Taubstummenanstalten und Schulen wurden sie von Erziehenden und Ordensschwestern verprügelt, gedemütigt und in ihrer Kommunikation beschnitten. Betroffene berichten von einem Leben in ständiger Angst: Ihnen wurden die Hände auf den Rücken gebunden, um Gebärden zu unterbinden. Oder sie bekamen Schläge in die Handinnenflächen.
    • Durch die erzwungene Oralerziehung mussten gehörlose Kinder Sprechübungen machen. Ihre eigentliche Bildung blieb dabei auf der Strecke. Die Gebärdensprache spielte in der Schule keine Rolle.

    Erfahrungen wie diese prägen. Sie können zu Gefühlen der Unsicherheit, Vorsicht, Ablehnung oder sogar des Hasses gegenüber Hörenden führen. Im Umgang mit gehörlosen Menschen ist Einfühlungsvermögen gefragt.

    Gehörlos, schwerhörig, ertaubt – eine kurze Begriffserklärung

    Es gibt unterschiedliche Arten und Schweregrade von Hörbehinderungen. Die Gruppe von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen ist überaus heterogen. Von ihrer Sozialisierung hängt ab, ob sie in erster Linie visuell (über das Sehen), akustisch (über das Hören) oder taktil (über Berührung) kommunizieren.

    Gehörlose Senior:innen

    Als „gehörlos“ werden ältere Menschen bezeichnet, die entweder von Geburt an nicht hören konnten, oder ihr Gehör vor ihrem fünften Lebensjahr verloren haben. Laut dem Deutschen Gehörlosen-Bund betrifft das 0,1 Prozent der Bevölkerung. Das entspricht rund 83.000 Menschen. Gehörlose kommunizieren in erster Linie in Deutscher Gebärdensprache (DGS). Diese folgt einer eigenen Grammatik und beinhaltet Idiome und Dialekte. Seit 2002 ist die DGS offiziell als Sprache anerkannt. Die Kommunikation Gehörloser ist visuell ausgerichtet.

    Einige wenige Gehörlose wachsen zweisprachig auf: Sie lernen als Muttersprache DGS und zusätzlich als erste Fremdsprache die deutsche Lautsprache. Die meisten haben Mühe mit der Schriftsprache, denn Wortschatz und Grammatik werden in erster Linie über das Hören gelernt. Dementsprechend bleibt die Schriftsprache für viele Gehörlose ein Buch mit sieben Siegeln.

    Rund 80 Prozent der Gehörlosen gelten als (funktionale) Analphabeten. Die meisten können einzelne Wörter und kurze Sätze lesen und buchstabieren, stoßen aber auf Schwierigkeiten bei längeren und komplexeren Texten.

    Schwerhörige Senior:innen

    Eine altersbedingte Schwerhörigkeit entwickelt sich schleichend. Schätzungen zufolge leidet beinahe die Hälfte der Menschen über 75 Jahre unter einem altersbedingten Hörverlust. Anders als Gehörlose sind Schwerhörige in der Regel hörend sozialisiert. Ihre Kommunikation bleibt auch im Alter akustisch orientiert. Hörgeräte helfen Betroffenen dabei, den Hörverlust ein Stück weit auszugleichen.

    Manche Schwerhörige verwenden lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) zur Kommunikation. Diese Gebärden sind an die Lautsprache angepasst und gelten nicht als eigene Sprache. Teilweise beherrschen Schwerhörige auch die Gebärdensprache in Grundzügen oder sprechen sie sogar fließend. Das ist meistens der Fall, wenn der Hörverlust in einem frühen Lebensalter eingesetzt hat.

    Ertaubte Senior:innen

    Verliert ein Mensch nach dem Erwerb der Sprache – mit sechs Jahren oder später – das Hörvermögen, gilt er als ertaubt. Zu einer Ertaubung kommt es überwiegend in höherem Alter. Ertaubte Menschen wurden hörend sozialisiert. Dementsprechend fühlen sie sich nicht zur Gruppe der Gehörlosen zugehörig.

    Taubblinde Menschen

    Etwa 6.000 Menschen in Deutschland sind taubblind. Sie kommunizieren taktil. Dazu nutzen sie das Lorm- oder Lormenalphabet des Dichters Hieronymus Lorm (1821-1902). Eine Person „spricht“ in die Handinnenfläche der „zuhörenden“ Person. Die Finger und Handpartien sind bestimmten Bedeutungen zugeordnet.

    Verbesserung der Versorgung von gehörlosen Senior:innen

    Menschen mit Behinderung sollten die Möglichkeit zu einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft haben. Eine Grundlage dafür ist der barrierefreie Zugang zu Informationen, Pflege und Versorgung.

    Um die Lebenssituation von älteren gehörlosen Menschen zu verbessern, wurde das Modellprojekt GIA (Gehörlose Menschen im Alter) in Köln und Essen ins Leben gerufen.

    Seine Aufgaben:

    • Beratung von gehörlosen Senior:innen, ihrer Bezugspersonen und Institutionen,
    • Information und Aufklärung,
    • Vernetzung vorhandener Angebote für gehörlose Menschen und
    • der Ausbau von Versorgungsstrukturen

    Vorbereitungsmaßnahmen für einen Einzug einer gehörlosen Person

    In den erarbeiteten „Handlungsperspektiven“ finden sich konkrete Anforderungen für Pflegeeinrichtungen, in die eine einzelne gehörlose Person unter Hörenden einzieht:

    • Mindestens zwei Pflegekräften sollten sich mit der Kommunikationsform, der Sozialisation, Geschichte und Kultur der Gehörlosen beschäftigt haben.
    • Kenntnisse in der Gebärdensprache gelten als wünschenswert.
    • Die Einrichtung sollte den gehörlosen Menschen darüber informieren, wann und wie er auf Gebärdensprachdolmetscher:innen zurückgreifen kann, um sich in seiner Muttersprache zu verständigen.
    • Schriftliche Unterlagen und Beratungsstellen für gehörlose Menschen oder die Gehörlosenseelsorge sollten vorliegen.
    • Die Wohnumgebung ist mit einem Vibrationsgerät, einem Rauchmelder, Wecker und Lichtklingel ausgestattet. Informationen zu dieser Ausstattung gibt der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V.

    Vorbereitungsmaßnahmen für einen Einzug mehrerer gehörloser Personen

    Ziehen mehrere gehörlose Menschen in ein Pflegeheim mit hörenden Bewohner:innen zusammen, sind die gestellten Anforderungen höher:

    • Pro Schicht sollte wenigstens ein:e Mitarbeiter:in tätig sein, die die Gebärdensprache auf dem Sprachniveau B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS) beherrscht.
    • Gehörlose Pfleger:innen und Betreuer:innen, die DGS als Muttersprache sprechen, sollten in die Pflege und Versorgung eingebunden sein.
    • Ehrenamtliche Kräfte mit DGS-Kenntnissen könnten unterstützend mitwirken.
    • In jedem Fall sollten schriftliche Unterlagen zu Beratungsstellen für gehörlose Menschen und die Gehörlosenseelsorge vorhanden sein.
    • Die Mitarbeiter:innen sollten über die Kultur, Kommunikation und Sozialisation gehörloser Menschen informiert sein. Um eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, bietet sich eine Schulung für alle an.
    • Eine mobile Ausstattung mit Vibrationsgerät, Rauchmelder, Wecker und Lichtklingel kann beim Deutschen Gehörlosen-Bund e.V. angefordert werden.

    6 Tipps für die Kommunikation mit Gehörlosen in der Pflege

    Wenn du als hörende Pflegefachkraft eine:n gehörlose:n Bewohner:in betreust, bedeutet die Kommunikation in Corona-Zeiten in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung.

    #1 Blickkontakt herstellen und halten

    Wende dich der gehörlosen Person zu und schau ihr beim Sprechen in die Augen. Wenn du sie/ihn auf dich aufmerksam machen möchtest, genügt meistens ein Handzeichen oder eine leichte Berührung an der Schulter.

    Falls ein:e Dolmetscher:in anwesend ist, bleibt dein:e Kommunikationspartner:in trotzdem der gehörlose Mensch. Richte deine Aufmerksamkeit also nicht auf die/den Gebärdensprachdolmetscher:in.

    #2 Langsam und deutlich sprechen

    Viele Gehörlose lesen von den Lippen. Das Mundbild ist ein wesentlicher Teil ihrer Kommunikation: In der Deutschen Gebärdensprache werden Mundbewegungen in Kombination mit Handzeichen eingesetzt. Wenn du langsam und deutlich sprichst, fällt es ihnen leichter, dich zu verstehen.

    Gehörlose Senior:innen sind darauf angewiesen, im Kontakt mit hörenden Pflegenden den Mundbereich zu sehen. Die handelsüblichen FFP2-Masken und medizinische Masken machen die Kommunikation unmöglich. Besser geeignet sind Alltagsmasken mit Sichtfenster. Sie bieten Schutz. Gleichzeitig bleiben die Lippen sichtbar. Vielleicht kannst du extra für den Kontakt mit gehörlosen Menschen diesen speziellen Mundschutz anlegen.

    Allerdings gibt es beim Lippenlesen gewisse Grenzen:

    • Es ist für Gehörlose ermüdend.
    • Dein Mund muss jederzeit sichtbar bleiben.
    • Einen Großteil des Gesprächsinhalts erschließen Gehörlose aus dem Kontext. Das kann zu Missverständnissen führen.

    Tipp: Setze beim Sprechen eine ausdrucksstarke Gestik und Mimik ein. Dadurch machst du es Gehörlosen leichter, dich zu verstehen.

    #3 Kärtchen beschriften

    Für die wichtigsten Hinweise, Aufforderungen oder Wörter könntest du „Karten“ selbst gestalten, ausdrucken und laminieren. Achte darauf, dass die verwendete Schriftart groß genug und angenehm zu lesen ist. Verwende zusätzlich einleuchtende Bilder oder Illustrationen.

    #4 Fingeralphabet lernen

    Das Fingeralphabet ist für Hörende leicht zu lernen. Es ist allerdings mühsam, jedes einzelne Wort zu buchstabieren. Zum einen dauert es lange und ist für den gehörlosen Menschen anstrengend zu verfolgen. Zum anderen verstehen nicht alle Gehörlosen sämtliche buchstabierten Wörter. Trotzdem ist es einen Versuch wert!

    #5 Deutsche Gebärdensprache lernen

    Es dauert, eine fremde Sprache fließend zu lernen. Vermutlich fehlt dir ohnehin Zeit an allen Ecken und Enden. Aber kleine erste Sätze („Bitte nehmen Sie Ihre Tabletten.“, „Haben Sie Durst?“) oder häufig benötigte Handzeichen lassen sich in wenigen Minuten lernen und direkt einsetzen. Selbst wenn du Fehler machst, nicht perfekt gebärdest oder dich wiederholen musst: Dein:e Bewohner:in wird sich freuen, dass du versuchst, DGS zu sprechen. Auf YouTube findest du verschiedene Gebärdensprachkurse, die dir den Einstieg erleichtern.

    Falls eine oder wenige gehörlose Menschen in einer Einrichtung leben, könnte ein Gebärdenkurs für Pflegekräfte und Bewohner:innen angeboten werden. Das baut mögliche Hemmschwellen ab und erleichtert langfristig die Kommunikation zwischen allen Beteiligten.

    #6 Berührungen gezielt einsetzen

    Körperkontakt ist ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation. Eine sanfte Berührung an der Schulter reicht, um die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Eine Umarmung spendet Trost.

    Wenn ein gehörloser Mensch krankheits- oder altersbedingt nicht mehr gebärden kann, wird Berührung sogar noch wichtiger. Die gehörlose Hospizbegleiterin Doris Ehrenreich massiert die Hände von pflegebedürftigen und sterbenden Menschen mit Mandelöl. „Das ist ein Gefühl von großer Nähe“. Diese Nähe hilft Gehörlosen dabei, den Kontakt zur Außenwelt nicht zu verlieren.

    Gehörlose Menschen sind eine kulturelle und sprachliche Minderheit in Deutschland. Im Alter ist eine kultursensible Pflege wichtig, um den Senior:innen in ihrem letzten Lebensabschnitt ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohl und zu Hause fühlen. Durch Offenheit und die Bereitschaft, sich mit ihrer Kultur, Geschichte, Sozialisation und Sprache zu beschäftigen, kannst du als hörende Pflegekraft eine Brücke bauen. Wichtig ist, die Lebenswelt gehörloser Senior:innen im Blick zu behalten und sie möglichst in ihrer Sprache – DGS – abzuholen.

    Michaela Hövermann

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