Multimorbidität kommt mit zunehmendem Alter häufig vor. Was du wissen musst, wenn du es in der geriatrischen Pflege mit mehreren Krankheitsbildern gleichzeitig zu tun hast, liest du in diesem Artikel.
Multimorbidität stellt gerade bei der Pflege alter Menschen eine große Herausforderung dar. Der Begriff definiert sich als Auftreten und Bestehen mehrerer Erkrankungen gleichzeitig. Für die Betroffenen bedeutet dies nicht selten einen enormen Einschnitt in ihrer Lebensqualität. Für Fachpflegende der Geriatrie ist es wichtig, das Phänomen Multimorbidität aus einem ganzheitlichen Blickwinkel zu sehen. Einer der wichtigsten Schwerpunkte ist dabei die Förderung einer bestmöglichen Lebensqualität für die betroffenen zu pflegenden Menschen und ihr soziales Umfeld.
Der Begriff der Multimorbidität bezieht sich auf mindestens zwei chronische Erkrankungen, welche gleichzeitig bei einem Menschen vorkommen – auch bekannt als chronische Mehrfacherkrankungen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer solchen Mehrfacherkrankung steigt mit zunehmendem Alter.
Es gibt bei der Multimorbidität sowohl abhängige als auch unabhängige Krankheitsbilder. Beispielsweise haben Diabetiker:innen ein größeres Risiko für Bluthochdruck oder Nierenerkrankungen. Vor allem bei älteren Menschen treten viele Erkrankungen aber auch unabhängig voneinander auf, zum Beispiel Arthrose und eine gleichzeitige Sehschwäche.
Von einer geriatrietypischen Multimorbidität ist die Rede, wenn eine Kombination von Multimorbidität und geriatrietypischen Befunden oder Sachverhalten vorliegt. Ein alter Mensch gilt als multimorbide, wenn funktionelle oder multiple strukturelle Schädigungen bei mindesten zwei behandlungsbedürftigen Erkrankungen vorliegen.
Als „geriatrietypisch“ versteht man bei der Multimorbidität eine Kombination der folgenden Merkmale:
Häufige medizinische Probleme älterer Menschen, von welchen oft mehrere gleichzeitig vorliegen, sind:
Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der chronischen Erkrankungen. Ungefähr zwei Drittel der über 65-Jährigen leiden an mindestens zwei chronischen Erkrankungen. Am häufigsten vertreten sind:
Die wichtigste Maßnahme zur Prävention altersbedingter und chronischer Krankheiten ist ein gesunder Lebensstil. Dazu gehören eine bewusste Ernährung und viel Bewegung (Übergewicht gilt als bedeutender Faktor für Multimorbidität) sowie regelmäßige Vorsorge. Auf diese Dinge sollte selbstverständlich auch in jedem Altersheim geachtet werden.
Im Deutschen Ärzteblatt erläuterten Wolfgang Seger und Thomas Gaertner 2020 in dem Beitrag „Multimorbidität – Eine besondere Herausforderung“ den Unterschied zwischen Multimorbidität und Co-Morbidität:
„Treten mehrere chronische Krankheiten parallel auf, steht dabei aber keine Krankheit in Bezug auf die individuelle Krankheitslast oder das Behandlungsregime im Vordergrund, spricht man von Multimorbidität (...) Mit Co-Morbidität werden hingegen Gesundheitszustände bezeichnet, in denen wiederum zwei oder mehrere chronische Krankheiten gemeinsam vorliegen, eine Krankheit davon aber im Vordergrund steht.“ Seger und Gaernter weisen ebenso darauf hin, dass die Erkrankung, welche im Vordergrund steht, wiederum von der Perspektive abhängig ist. Das bedeutet, liegen beispielsweise als Erkrankungen eine Depression, eine Hypertonie und ein Diabetes mellitus vor, so kann aus einer psychiatrischen Perspektive heraus die Depression vorrangig sein, während die körperlichen Erkrankungen als Co-Morbidität gelten.
Der Umgang mit zu pflegenden Menschen, welche an Multimorbidität leiden, ist für Pflegende keine leichte Aufgabe. Im Fokus steht die Förderung einer bestmöglichen Lebensqualität. Die Aufgaben der Pflegefachpersonen beziehen sich auf ein vorausschauendes Pflegehandeln.
Zwar ist der Gesundheitszustand älterer Menschen in Deutschland als sehr positiv zu vermerken. Laut Statistischem Bundesamt geben 42 Prozent der über 65-Jährigen und 20 Prozent der über 85-Jährigen ihren Gesundheitszustand mit gut oder sehr gut an. Doch haben auch ca. 80 Prozent der über 70-Jährigen mindestens eine chronische Erkrankung.
Die gesundheitlichen Auswirkungen chronischer Erkrankungen können durch große medizinische Fortschritte heutzutage weit hinausgezögert werden. So können auch chronisch Erkrankte ein hohes bis sehr hohes Alter erreichen. Dies geht jedoch selten ohne pflegerische Unterstützung. Die geriatrische Pflege muss also auf die Komplikationen und Herausforderungen einer Multimorbidität bestens vorbereitet sein. Das beinhaltet nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Veränderungen der Betroffenen. Unsicherheiten, soziale Isolation, Stress, Anspannungen und Angst können mitunter Teil der Krankheitsbilder sein.
Behandlung und Pflege sollten darauf ausgerichtet sein, den Zusammenhang zwischen Multimorbidität und der Gebrechlichkeit alter Menschen nicht aus den Augen zu verlieren. Mediziner:innen und Pflegekräfte sollten Risiken und Nutzen regelmäßig kritisch reflektieren. Alten Menschen fällt es nachweislich schwerer, gesundheitliche Veränderungen und Maßnahmen zu verarbeiten und zu kompensieren.
Da bei Multimorbidität verschiedene Symptome gelindert werden müssen, erfolgt meist die Gabe mehrerer Medikamente. Nicht selten kommt es zu Wechselwirkungen, die wiederum weitere Beschwerden hervorrufen können. Dies kann auch die Diagnostik erschweren, da Symptome von Nebenwirkungen fälschlicherweise als neue Erkrankung betrachtet werden. Polypharmazie kann bei Multimorbidität nicht vermieden werden, jedoch sollte sie so optimal wie möglich erfolgen und regelmäßig überprüft werden. Insbesondere wenn es sich bei den Patient:innen um alte Menschen handelt, denen es schwer fällt, den Überblick über ihre Medikation zu behalten. Hier kommt es auf eine gute Kommunikation zwischen Hausarzt, Patient:in bzw. Pflegeeinrichtung und Fachmediziner:innen an.
Die Pflege von Menschen mit Multimorbidität ist nicht einfach. Bestehen mehrere Erkrankungen gleichzeitig, stellt dies Anforderungen was die medizinische Behandlung und die patientenzentrierte Pflege angeht.
Die Pflegewissenschaftlerin Dr. phil. Elke Steudter hat sich mit dem Thema „Multimorbidität im Alter“ genauer auseinandergesetzt. In ihrem aktuellen Artikel für die „PflegeZeitschrift“, „Langfristig gut versorgt trotz Multimorbidität“, geht sie unter anderem auf das Chronic Care Modell des amerikanischen Mediziners und Wissenschaftlers Dr. Ed Wagner ein. Dieses besteht seit 1998 und hat sich in vielerlei Hinsicht in der Praxis bewährt. Viele bedeutsame Aspekte im Umgang mit Multimorbidität finden laut Dr. Steudter hierbei Beachtung. Insbesondere eine koordinierte und abgesprochene Therapie und Pflege hebt sie bei dem Modell klar hervor.
Gemeint ist, dass trotz verschiedener Fachdisziplinen, welche mit alterstypischen chronischen Erkrankungen einhergehen, ein gemeinsames Behandlungsziel im Vordergrund stehen sollte. Ein Behandlungsziel, welches auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingeht. So müssen beispielsweise Ansätze der verschiedenen Fachgebiete abgestimmt und vor allem kommuniziert werden. Der Hausarztpraxis kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Indem eine gute Koordination, Kommunikation und Dokumentation im Sinne der Patient:innen gegeben sind, können unnötige Strapazen wie Überdiagnostik und Doppeluntersuchungen vermieden werden. Auf diese Weise werden auch unnötige Kosten reduziert.
Es gibt nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse über Multimorbidität, da Betroffene meist von klinischen Studien ausgeschlossen werden. Für jede einzelne der Erkrankungen mag es eine jeweilige Leitlinie geben. Jedoch ist diese oft nicht anwendbar, wenn mehrere chronische Krankheiten bestehen. Behandlungsmethoden und Medikamente schließen sich aus oder erzielen nicht das erhoffte Ergebnis.
Aus diesem Grund hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) 2017 eine Leitlinie zur Multimorbidität vorgestellt.
Multimorbidität darf nicht als Ausnahme in der Langzeitpflege gesehen werden, sondern als Norm und fester Bestandteil – insbesondere in der geriatrischen Pflege. Multimorbidität muss ganzheitlich erfasst werden. Für Pflegende in der Geriatrie geht hiermit eine besondere Aufgabe einher: Durch den nahen Kontakt zu den betroffenen Pflegebedürftigen agieren sie unter anderem als essentielle Ansprechpartner. Teil ihrer Kompetenz als Pflegefachperson sollte es sein, Veränderungen im chronischen Krankheitsverlauf als erste wahrzunehmen. Durch eine gelungene Kommunikation, Dokumentation und Koordination als Teil eines multiprofessionellen Teams, kann die Lebensqualität von alten Menschen mit Multimorbidität um ein Vielfaches verbessert werden.
Sarah Micucci