Vanessa Schulte ist Pflegefachkraft und Influencerin. Sie hat öfter erlebt, dass Schmerzen bei Patient:innen von Pflegekräften nicht ernst genommen wurden. In ihrem Appell erklärt sie, warum es so wichtig ist, sensibel auf Schmerzäußerungen einzugehen. (Alle Namen geändert.)
Hannelore Müller ist 72 Jahre alt und leidet seit einigen Jahren an rheumatoider Arthritis. Aufgrund eines akuten Krankheitsschubs wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Inzwischen geht es ihr etwas besser, und sie sitzt im Aufenthaltsraum der Station, schaut fern und hat eine Zeitschrift auf ihrem Schoß liegen.
Als die Auszubildende Melissa den Raum betritt, berichtet ihr Frau Müller von ihren Schmerzen. Melissa teilt diese Information sofort der examinierten Pflegekraft Susanne mit, die daraufhin sagt: „Ich glaube ja nicht, dass die Schmerzen von Frau Müller so stark sind, wie sie sagt. Lass uns noch eine halbe Stunde abwarten, bevor wir ihr ein Schmerzmittel geben.“
Melissa fragt daraufhin, wie Susanne wissen könne, dass die Patientin keine Schmerzen habe. Daraufhin zeigt Susanne auf die Patientendokumentation. „Bei der Messung vor einer halben Stunde waren Puls und Blutdruck normal. Außerdem zeigt Frau Müllers Gesicht keine Anzeichen von Schmerz. Und überhaupt, sie liest eine Zeitschrift und schaut fern. So schlimm können ihre Schmerzen nicht sein, oder?“
Susanne kommt bei all ihren Erklärungen nicht in den Sinn, dass diese Patientin gelernt hat, mit ihren chronischen Schmerzen umzugehen und sich anzupassen, sodass keine Veränderungen in den Vitalzeichen oder im Gesichtsausdruck erkennbar sind.
Sie bedenkt auch nicht, dass Frau Müller der Ansicht ist, dass man nicht viel Aufsehen erregen sollte, wenn man Schmerzen hat.
Susanne berücksichtigt auch nicht, dass Frau Müller aus Erfahrung weiß, dass sie durch Fernsehen oder Lesen ihre Aufmerksamkeit von den Schmerzen ablenken und diese erträglicher machen kann.
Auch denkt Susanne nicht an Faktoren wie den kulturellen Hintergrund und die Geschlechtszugehörigkeit, welche genauso wie die Schmerzen selbst Einfluss darauf haben, wie Schmerzen ausgedrückt werden.
Ich habe ähnliche Situationen regelmäßig während meiner Ausbildung erlebt und auch als Patientin wurden mir schon meine Schmerzen vom Pflegepersonal abgesprochen.
Schmerz ist eine komplexe und unangenehme Empfindung, die durch Nozizeptoren im peripheren Nervensystem ausgelöst wird. Das zentrale Nervensystem verarbeitet und interpretiert den Schmerz, wobei eine enge Verbindung zwischen der Wahrnehmung von Schmerz und der Psychebesteht.
Schmerz tritt oft in Verbindung mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung auf. In solchen Fällen ist er ein Symptom, kann aber auch einen eigenen Krankheitswert haben, insbesondere bei chronischen Schmerzen. Dann spricht man von einem Schmerzsyndrom.
Schmerzen können durch Überlastung, Entzündungen oder Verletzungen von Gewebe verursacht werden. Sie erfüllen eine wichtige physiologische Warnfunktion, indem sie das Individuum dazu anregen, sich vor schmerzhaften Reizen zu schützen oder sie zu vermeiden. Darüber hinaus ist Schmerz auch in der Heilungsphase von Bedeutung, da er eine Schonhaltung induziert, um weitere Verletzungen von Körperstrukturen zu verhindern.
Schmerzzustände können vom Körper erlernt werden. Wiederholte Schmerzen führen dazu, dass das Schmerzempfinden intensiver und länger andauert, da die Schmerzschwelle gesenkt wird. Daher ist eine frühzeitige und angemessene medikamentöse Schmerzlinderung bei bestimmten Formen von Schmerz wichtig.
Die Schmerzeinschätzung und die Verabreichung von Schmerzmitteln sind also in der pflegerischen Arbeit von großer Bedeutung. Wenn Pflegekräfte die Schmerzen der Patient:innen nicht erkennen, können sie auch nicht eingreifen, um diese Schmerzen zu lindern. Wenn Patientinnen jedoch unter unerkannten Schmerzen leiden, kann dies den Genesungsprozess negativ beeinflussen und zu Komplikationen und längeren Krankenhausaufenthalten führen, was wiederum höhere Kosten verursacht.
Bereits 1979 wurde in einer Studie festgestellt, dass Pflegekräfte verbalen Äußerungen von Patient:innen über Schmerzen wenig Beachtung schenken. Trotz der allgemeinen Erkenntnis, dass Schmerz das ist, was der Patient als solchen bezeichnet. In der Studie bevorzugten die Pflegekräfte physiologische Daten wie erhöhten Blutdruck oder das äußere Erscheinungsbild der Patient:innen, um ihre Schmerzintensität zu beurteilen.
1995 gaben Wissenschaftler in einer weiteren Arbeit an, dass für 70 Prozent der Intensivpatient:innen Schmerzen ihre unangenehmste Erinnerung waren. Dem gegenüber standen 70 bis 90 Prozent der Ärzt:innen und Pfleger:innen, die der Meinung waren, dass diese Patient:innen schmerzfrei waren. Die subjektive Natur von Schmerzen erschwert ihre objektive Bewertung.
Daher scheint die logische Konsequenz zu sein: Pflegekräfte sollten den Patient:innen glauben, wenn sie sagen, dass sie Schmerzen haben. Denn die Eigenauskunft ist auch laut den S3 Leitlinien der Goldstandard und sollte immer vor der Fremdeinschätzung gewählt werden, sofern der/die Patient:in nicht gerade intubiert auf einer Intensivstation liegt.
An dieser Stelle jedoch eine Warnung: Die Mehrheit der Patient:innen fordert nicht von sich aus Schmerzmittel ein. Der häufigste Grund hierfür ist Angst, durch das Pflegepersonal gebrandmarkt zu werden.
Ältere Menschen, insbesondere ältere männliche Patienten, verzichten darauf, ihre Schmerzen kundzutun, weil sie Glaubenssätze wie „Das gehört zum Alter dazu.“, „Das muss man aushalten“ oder „Nur die Harten kommen in den Garten.“ verinnerlicht haben.
Es liegt an uns Pflegekräften, den Patient:innen zu glauben, wenn sie von Schmerzen berichten, und eine angemessene Schmerztherapie zu gewährleisten. Gleichzeitig sollten mögliche Ängste und Vorurteile der Patient:innen im Umgang mit Schmerzen berücksichtigt werden, um ihre Genesung nicht zu beeinträchtigen. Und mal ehrlich, was haben wir davon, unseren Patient:innen Schmerzmittel vorzuenthalten?
Vanessa Schulte