Interview: Coachin Esther Wilkening über Achtsamkeit für Pflegekräfte

Esther Wilkening erklärt, warum Achtsamkeit für Pflegekräfte so wichtig ist und lädt zu einem besonderen Coaching.

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Kennst du das? Ein Konflikt auf Station hat dich mal wieder zur Weißglut gebracht, mit dem Patienten in Zimmer 12 kannst du gar nicht oder du ärgerst dich, weil die Pflegedienstleitung deine Überstunden als selbstverständlich betrachtet? Esther Wilkening würde jetzt fragen: „Wie alt fühlst du dich gerade?“ Oft antworten ihre Klient:innen, dass sie sich zurückversetzt fühlen in die Zeit als Teenager, der sich mit seinen Eltern streitet. Oder wie ein bockiges Kleinkind. Die Coachin erklärt dann, dass bestimmte Situationen Reaktionen triggern, die schon in der Kindheit geprägt wurden. Doch nicht immer ist unser Verhalten für uns hilfreich. Sind unsere Ressourcen ausgeschöpft und wir beruflich oder privat überlastet, können wir den Stress nicht mehr bewältigen. Im schlimmsten Fall endet dies im Burnout.

Dass Pflegekräfte besonders häufig an diese Belastungsgrenze kommen, weiß Esther Wilkening aus eigener Erfahrung. 1994 machte sie ihr Examen als Krankenpflegerin und arbeitete viele Jahre in der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotraumatologie. Seit 14 Jahren ist sie außerdem Entspannungspädagogin und zertifizierte Coachin.

Sie arbeitet mit Privatpersonen und Teams aus allen möglichen Berufsgruppen. Die Pflege liegt Esther jedoch besonders am Herzen, schließlich kennt sie die Herausforderungen, vor denen Pflegekräfte stehen. Aus ihren Erfahrungen und ihrem Wissen hat sie das Programm „Mindful Care“ entwickelt. Damit hilft sie Pflegefachpersonen, Achtsamkeits- und Entspannungstechniken zu erlernen und im Berufsalltag anzuwenden. Warum Stressmanagement einfacher geht, als man denkt und warum Pflegekräfte ihre eigenen Bedürfnisse niemals aus den Augen verlieren dürfen, erklärt uns Esther im Interview.


Esther Wilkening, Achtsamkeitscoach für Pflegekräfte


Wo liegen die besonderen Herausforderungen für Pflegekräfte in ihrem Berufsleben?

Esther Wilkening: Natürlich erst einmal das, was wir in den letzten Jahren medial schon mitbekommen haben. Das weiß mittlerweile fast jeder: überlastete Stationen, Personalausfälle. Dann übernehmen andere, die aufgrund der Überlastung auch erkranken. Dazu kommen spezifische Bedingungen in der Pflege: man arbeitet ständig gegen den Biorhythmus, Feiertagsarbeit und so weiter. Dann entsteht ganz leicht das Problem, dass man seinen Stress selber verstärkt, indem man sich seiner Ressourcen beraubt. Wenn man erschöpft ist, sagt man sich vielleicht „ich gehe heute nicht zum Sport, ich treffe mich nicht mit Leuten“. Die ganze Energie geht in die Arbeit. Ich höre viel von Pflegekräften, die sagen, mit ihren sozialen Kontakten sieht es nicht so richtig gut aus. Das sind aber meine Kraftquellen und die lasse ich in dem Moment fallen. Eine weitere Herausforderung ist die emotionale Komponente. Wenn man in der Pflege einen Fehler macht, kann das unter Umständen über Leben und Tod entscheiden. Das haben andere Berufe nicht. Das ist ein immenser Druck, der auf Pflegekräften lastet.



Eine große Verantwortung, die zur emotionalen Belastung werden kann.

Esther Wilkening: Viele Pflegekräfte gehen mit einem großen Altruismus in den Beruf. Sie haben eine Vision, was sie erreichen möchten und dann geraten sie ständig an Grenzen. Wenn wir mit unseren Werten nicht übereinstimmen, lässt uns das auf Dauer resignieren. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass von außen erwartet wird, immer sozial kompetent aufzutreten und alle Entscheidungen auf die Bedürfnisse der Patient:innen abzustimmen. Durch diesen Druck, zusammen mit den Arbeitsbedingungen, kommen Emotionen. Es entsteht Anspannung, Wut, es ist Scham dabei, es kann zu Aggression kommen. Und diese Emotionen werden oft nicht bearbeitet.

Warum ist das so?

Esther Wilkening: Themen wie Ärger, Aggression, Scham sind tabuisiert. Zum Teil kann man es im Team auffangen, wenn man gut zusammenarbeitet. Dass man Psychohygiene betreibt, indem man sich darüber einfach ausspricht. Aber aufgrund des Personalschlüssels sind Pflegekräfte oft allein auf Station und auch allein mit ihren Emotionen. Ich hätte mir damals schon einen Coach gewünscht und das ist jetzt noch schwieriger geworden.


junge Frau entspannt sich


Welche Themen beschäftigen Pflegekräfte noch?

Esther Wilkening: Was ich immer wieder höre, ist Wertschätzung. Selbst das ist ja medial präsent, wenn wir an das Klatschen denken. Natürlich fehlt ganz oft die Wertschätzung. Gesellschaftlich oder auch von den Vorgesetzten. Ich erarbeitete mit den Pflegekräften im Coaching, wie sie dieses Bedürfnis äußern können. Viele trauen sich das nicht oder nehmen es als Bedürfnis nicht klar wahr. Was wir dabei nicht unterschlagen dürfen, ist, dass ich mir Wertschätzung als allererstes selber geben muss.

Aber Wertschätzung von außen ist trotzdem wichtig, oder?

Esther Wilkening: Ich erlebe oft, dass Pflegekräfte ganz frei raus sagen, „ich habe ein Helfersyndrom“. Und das ist meistens auch noch ganz positiv belegt: Aber es birgt Schwierigkeiten, wenn ich mich ausschließlich darüber identifiziere, dass ich etwas für andere mache. Ich bin immer darauf angewiesen, dass auch etwas zurückkommt, dass der andere mich wertschätzt. Sobald das ausbleibt, fühle ich mich unwohl und nicht in meinem Gleichgewicht.



Was sind Stressauslöser und Stressverstärker für Pflegekräfte?

Esther Wilkening: Stressauslöser kann alles Mögliche sein. Die Arbeitsbedingungen, die limitierte Zeit oder Situationen auf Station. Das können aber auch anstrengende Patient:innen oder Kolleg:innen sein oder die Kommunikation mit Ärzt:innen. Wie die Stressreaktion ausfällt, hat mit den inneren Überzeugungen zu tun. Jeder kennt Kolleg:innen, die immer völlig entspannt sind. Da kann man gucken, was machen die anders und sich vielleicht etwas abgucken. Aber Pflegekräfte sollten sich auch fragen, was ihre Stressverstärker sind, zum Beispiel: Ich muss immer alles perfekt machen, ich muss es allen recht machen, ich muss möglichst bei allen beliebt sein. Dann habe ich ein richtiges Problem in der Abgrenzung und kann nicht nein sagen. Kontrolle ist ein großer Stressverstärker. Habe ich das Gefühl, dass es nur gut ist, wenn ich alles alleine mache und kontrolliere? Diese Überzeugungen sind von unseren Eltern geprägt worden. Das, was unsere Eltern verstärkt haben, das haben wir quasi als Überlebensstrategie mitgenommen. Zum Beispiel sei angepasst oder erst die Arbeit, dann das Vergnügen.


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Am 9.11. veranstaltest du gemeinsam mit MEDWING einen Workshop für Pflegekräfte. Was werden die Teilnehmer:innen dort lernen?

Esther Wilkening: Wir nehmen das Thema Achtsamkeit ganz groß in den Fokus. Weil es in der Arbeit auf Station auf ganz vielen Ebenen ein Benefit sein kann. Was die meisten damit verbinden, ist eine Stressreduktion. Es gibt aber noch viel mehr Ebenen. Achtsamkeit kann den Alterungsprozess verlangsamen. Die Biologin Elizabeth Blackburn hat den Nobelpreis dafür gewonnen, dass sie in der Telomer-Forschung genau das nachweisen konnte. Der präfrontale Cortex wird verdickt und die Amygdala, also das Angst-Stress-Zentrum, kann schrumpfen. Auch die Konzentrations- und Empathiefähigkeit wird besser. Was als zweite Ebene dazu kommt: Wenn ich achtsam bin, kann ich innere Überzeugungen, die mich lähmen und limitieren, verändern. Dann bin ich mir bewusst, was ist mein Trigger und kann ganz anders damit umgehen, als wenn ich die ganze Zeit im Autopiloten durchs Leben gehe. Im Workshop zeige ich den Pflegekräften kleine Interventionen, zum Beispiel die Eine-Minute-Meditation. Sie müssen nicht eine halbe Stunde auf der Matte sitzen oder Yoga-Urlaub buchen. Es sind kleine Übungen, die im Pflegealltag einen Unterschied machen können.



Was bedeutet Mindful Care?

Esther Wilkening: Mindful Care meint zunächst achtsame Pflege. Wenn ich achtsam bin, kann ich mich mit mir selbst verbinden und kann anders in Beziehungen treten. Das heißt, ich übernehme Verantwortung für mich und für meine Trigger, die ich vielleicht von Kind an mit mir rumschleppe. Wenn ich diese verändere, kann sich meine Arbeit komplett harmonisieren. Ich bin mit mir selber gut in Kontakt und fühle mich wohl. Durch mindful care können Pflegekräfte eine positive Identifikation mit dem Beruf entwickeln, im Team besser zusammenarbeiten und besser mit Patient:innen kommunizieren.

Welche Methoden empfiehlst du „Entspannungsanfänger:innen“?

Esther Wilkening: Es ist immer eine Typsache. Es gibt zum Beispiel „Team autogenes Training“ und „Team Progressive Muskelrelaxation“ (PMR). PMR setzt am Körper an, autogenes Training setzt an den Gedanken an. Wenn ich ein körperbetonter Typ bin und ein schnelles Ergebnis haben möchte, würde ich PMR empfehlen. Für andere, die ein bisschen näher hingucken und mit positiven Suggestionen arbeiten wollen, empfehle ich autogenes Training. Ansonsten auch Yoga und natürlich Meditation. Es gibt informelle Formen der Meditation wie Gehmeditation, Meditation beim Essen oder eben die Eine-Minute-Meditation, die ich im Workshop zeige. Im Grunde ist Achtsamkeit eine Form der Meditation im Alltag. Zum Beispiel beobachte dich, wenn du dir früh die Zähne putzt. Woran denkst du? Viele sind dann schon bei dem Konflikt auf Arbeit. Wenn man aber einfach mal die andere Hand zum Zähneputzen nimmt ist man achtsam, denn das geht nicht im Autopilot.

Wann kannst du nicht mehr weiterhelfen und der Mensch benötigt psychologische Hilfe?

Esther Wilkening: Wenn jemand in einer Negativspirale ist und aus diesen Gedanken nicht mehr raus kann. Wenn es schon in Richtung Depression geht. Viele Pflegende haben auch mit einer Traumafolgestörung zu tun. Einige halten sich dann an ihrer Arbeit fest, was auf Dauer nicht gut gehen kann. Das sehe ich im Gespräch. Es ist ganz wichtig zu sagen, ich kann mit Achtsamkeit und Coaching keine Depression heilen.

Was antwortest du Pflegekräften, die sich fragen, ob das Coaching wirklich Veränderung bringt?

Esther Wilkening: Jeder Move verändert etwas. Am Anfang muss man sich vielleicht überwinden, die kurzen Techniken zu integrieren. Aber dann merkt man, es fühlt sich richtig gut an, bei sich zu sein. Es ist ein schönes Gefühl, bei sich anzukommen und sich ganz selbstwirksam runterzufahren. Man kann das Leben wieder anders fühlen und selbstfürsorglicher sein. Dafür braucht es nur ganz wenig Zeit.

Tägliche Achtsamkeit und Entspannungstechniken müssen nicht lange dauern. Schon ein kurzer achtsamer Moment auf dem Weg zur Arbeit oder zum nächsten Patienten oder eine bewusste Mittagspause ohne Handy können einen Unterschied machen.

Interview: Friederike Bloch

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