Die Pflegereform 2022 bringt eine mehr als überfällige Neuerung. Pflegefachkräfte in der häuslichen Krankenpflege bekommen endlich mehr Verantwortung und fachliche Anerkennung. Über bestimmte medizinische Maßnahmen dürfen sie nun eigenständig entscheiden sowie ohne ärztliche Verordnung Hilfsmittel empfehlen.
Das Ringen um Anerkennung in der Pflege bezieht sich nicht nur auf den Verdienst. Pflegefachkräfte fühlen sich häufig in ihrer Kompetenz unterschätzt, denn viele pflegerische Bereiche fallen nach wie vor in den Zuständigkeitsbereich von Ärzt:innen. Dabei sind diese keine Spezialist:innen im Pflegebereich.
Seit Januar 2022 wird aufgrund der Pflegereform 2022 und des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz Pflegekräften etwas mehr Verantwortung zugesprochen. Laut Bundesgesundheitsministerium dürfen Pflegefachkräfte Hilfsmittel und Pflegemittel, wie ein neues Pflegebett oder Lagerungshilfen, empfehlen und eigenständige Entscheidungen in der häuslichen Pflege treffen. Ärztliche Verordnungen sind dann nicht mehr nötig. Die Häusliche Krankenpflege-Richtlinie (HKP-RL) wurde im Juli vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) entsprechend angepasst. In der HKP-Richtlinie sind alle Leistungen, über die qualifiziertes Pflegefachpersonal eigenständig entscheiden darf, aufgezählt.
Kommen Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland, erleben sie die Eingliederung in den Klinikalltag häufig als frustrierend. Das liegt daran, dass sie deutlich weniger Befugnisse haben, als sie es aus ihren Heimatländern gewöhnt sind.
Michael Ewers vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité verglich die Pflegesituation in Deutschland mit der in Großbritannien, Schweden, Kanada und den Niederlanden. In den genannten Ländern sind Pflegekräfte häufig akademisch gebildet.
Im internationalen Raum ist generell überwiegend ein Bachelor-Abschluss nötig, um als Pflegefachkraft anerkannt zu werden. Dadurch haben Pflegefachkräfte im Ausland oft einen umfangreicheren Aufgaben- und Verantwortungsbereich als deutsche Fachkräfte. Regelmäßige Weiterbildungen sorgen dafür, dass sie auf den neuesten wissenschaftlichen Stand bleiben. In Deutschland fühlen sich diese Pflegefachkräfte mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen oft nicht wertgeschätzt.
Auch in Großbritannien, Schweden, Kanada und den Niederlanden fehlt Pflegepersonal. Diese Länder begegnen dem Fachkräftemangel nicht nur durch Bemühungen, den Pflegeberuf für möglichst viele Menschen attraktiv zu machen, sondern investieren auch in die hochschulische Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften. Dies steht in Deutschland bisher kaum im Fokus.
Wer in Großbritannien oder Schweden in der Pflege tätig sein möchte, muss studieren. In den Niederlanden gibt es zwei Zugänge zum Pflegeberuf: ein Bachelorstudium und eine traditionelle Berufsausbildung. Allerdings entscheiden sich bereits rund 45 Prozent der angehenden Pflegefachkräfte für das Studium. In Deutschland dagegen liegt der Anteil der Hochschulabsolvent:innen in der Pflege nur bei ein bis zwei Prozent.
Immerhin regelt das Pflegeberufegesetz (PflBG) erstmals pflegerische Vorbehaltsaufgaben beziehungsweise „vorbehaltene Tätigkeiten“. Darunter sind berufliche Aufgaben zu verstehen, die ausschließlich Pflegefachkräfte durchführen dürfen. Dazu zählen zurzeit…
Vorbehaltsaufgaben werten Pflegeberufe auf. Zugleich wird dadurch eine hohe Pflegequalität sichergestellt. Sollten Arbeitgeber diese Aufgaben trotzdem an dafür nicht qualifizierte Personen übertragen oder die Übernahme der Pflege durch dafür nicht qualifizierte Mitarbeiter:innen hinnehmen, gilt das als Ordnungswidrigkeit. Dafür erwartet den Arbeitgeber eine Geldbuße in Höhe von bis zu 10.000 Euro.
Vorbehaltsaufgaben gelten absolut. Die Verantwortung liegt ausschließlich in den Händen der Pflegefachkräfte. Dazu zählen Gesundheits- und Krankenpfleger:innen, Kinderkrankenpfleger:innen, Altenpfleger:innen, Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Selbst Ärzt:innen dürfen diese nicht übernehmen. Die Durchführung der pflegerischen Maßnahmen gehört nicht zu den Vorbehaltsaufgaben. Diese Arbeit kann beispielsweise an Pflegehelfer:innen delegiert werden.
Laut Dr. Andreas Westerfellhaus, dem ehemaligen Pflegebeauftragten der Bundesregierung, ist der Zuständigkeitsbereich von Pflegekräften in Deutschland trotzdem so begrenzt wie in keinem anderen europäischen Land: „Examinierte Pflegekräfte können nach ihrer dreijährigen Ausbildung extrem viel, fühlen sich aber oft zu Assistenten der Ärzte degradiert“, erklärt er. Sie kennen sich mit Infusionen, Wundversorgung und der Beatmungsentwöhnung aus. Trotzdem brauchen sie eine Verordnung der behandelnden Ärztin bzw. des behandelnden Arztes, wenn sie einen Verbands- oder Pflasterwechsel vornehmen wollen.
Die Vereinigung der Pflegenden (VdPB) in Bayern erklärte:
„In einigen Bereichen verfügen Pflegefachkräfte bereits heute über die Kompetenz zur eigenständigen Ausübung der Heilkunde. Die Versorgung chronischer Wunden kann hier exemplarisch genannt werden. In der Folge ist die Forderung nach einer vollständigen Übertragung der Entscheidungsbefugnis nur folgerichtig.“
Dazu gehöre laut VdPB die Kompetenz, Verordnungen und Rezepte auszustellen und diese Leistung gegenüber den Kostenträgern abzurechnen. Dadurch würden Pflegefachkräfte endlich die verdiente Anerkennung erhalten. Gleiches gelte für die die Verordnung von Hilfsmitteln und Inkontinenzprodukten sowie für die Versorgung chronisch kranker Menschen. Dies wird seit diesem Jahr zumindest teilweise umgesetzt.
Westerfellhaus bezeichnete dies als Chance, die flächendeckende Versorgung auf dem Land sicherzustellen und schlug eine „sinnvolle[n] Arbeitsteilung zwischen Medizinern und Pflegekräften“ vor. Sogenannte Advanced Practice Nurses, wie es sie zum Beispiel in den USA oder Kanada gibt, könnten durch ihre im Studium erworbenen Kenntnisse in große Hilfe für die Landärzt:innen sein. Wenn Pflegefachkräfte heilkundliche Tätigkeiten übernehmen, ist das mit zahlreichen Vorteilen verbunden:
Der Zugewinn an Kompetenz und Anerkennung könne eine Chance sein, die Flucht aus dem Berufsfeld der Pflege zu verhindern, so Westerfellhaus. Wenn der Pflegeberuf attraktiver werden soll, bräuchte es neben deutlichen Lohnsteigerungen mehr Personal und mehr Befugnisse.
Entbindungspfleger:innen verfügen bereits seit 1985 über Vorbehaltsaufgaben: Ärzt:innen sind dazu verpflichtet, bei Entbindungen eine:n Entbindungspfleger:in hinzuzuziehen. Zur Geburtshilfe gehören unter anderem die Überwachung des Geburtsvorganges, Unterstützung bei der Geburt und die Überwachung des Wochenbettverlaufes. Diese Anerkennung ist in der Pflege noch ausbaufähig, doch die neuen Befugnisse sind zumindest ein weiterer Schritt, das Selbstbewusstsein der Pflege zu stärken.
Michaela Hövermann