Ein betagter Mensch hat viele Jahrzehnte Leben hinter sich. Er hat gelebt, geliebt, sich eine Karriere aufgebaut, vielleicht eine Familie gegründet und unzählige Herausforderungen bewältigt. Die Vergangenheit ist eine wertvolle Ressource. Wie dir die Lebensgeschichte eines Menschen bei der Arbeit im Pflegeheim helfen kann, erfährst du mithilfe unserer Tipps und Beispiele zur Biografiearbeit in der Altenpflege.
Als der 78-jährige Rolf L. ins Pflegeheim kam, litt er bereits unter Demenz. Seine Frau war kurz zuvor verstorben. Die einzige Tochter konnte sich damals nicht vorstellen, ihn weiterhin zu Hause zu pflegen. Im Pflegeheim fühlt er sich nicht wohl. Er lief mehrmals davon, wollte zurück nach Hause. Gegenüber dem Pflegepersonal zeigte er sich unzugänglich. Manchmal war er sogar aggressiv.
Besser wurde das erst, als seine Tochter sein Lieblingsinstrument, die Orgel, erwähnte. Die heute 49-jährige Carola L. erinnert sich: „Mein Vater hatte beinahe alles vergessen. Aber Orgelspielen konnte er bis zuletzt. Er war leidenschaftlicher Organist.“ Im Altenheim gab es eine Orgel, die er benutzen durfte. „Er wusste nicht mehr, wer ich war. Aber er saß jeden Sonntag an der Orgel und spielte.“ Dazu trug er einen speziellen Anzug. „Für ihn war es selbstverständlich, gewaschen und ordentlich frisiert zu spielen.“ Das erleichterte die Grundpflege erheblich. Carola L. blätterte für ihren Vater die Noten um. „Vermutlich spielte er komplett aus dem Gedächtnis. Aber für mich waren das besondere Momente der Nähe.“
Die Biografiearbeit gehört zur aktivierenden Pflege. Damit ist die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte eines Menschen gemeint. Das tiefgreifende Wissen rund um das Leben einer pflegebedürftigen Person führt zu Wertschätzung und Verständnis. Das wiederum trägt zu einer individuelleren Pflege bei.
Der Lebenslauf ist Teil der Biografie. Aber er zeigt nur die Eckdaten des Lebens an: Wann jemand geboren wurde, die schulische Laufbahn und den Weg durchs Berufsleben. Auch die medizinischen Unterlagen zeigen ein Stück Biografie. Du erfährst, wie es gesundheitlich um die Bewohner:innen steht, welche Unterstützung sie im Alltag benötigen und welche Medikamente sie regelmäßig einnehmen.
Zu einer Biografie gehört auch das persönliche, subjektive Erleben. Was hat der Mensch erlebt und gefühlt? Welche Länder hat er bereist? Was isst und trinkt er gern? Über welche Filme kann er Tränen lachen und welche Musik tut ihm gut?
Die Biografie eines Menschen umfasst verschiedene Dinge:
Dazu kommen Erlebnisse, die eine größere Gruppe Menschen betreffen. Das kann eine gemeinsame Geschichte sein wie etwa das Leben in der ehemaligen DDR oder während des Krieges. Menschen mit Migrationshintergrund verbindet die Erfahrung, ihr Heimatland zu verlassen und einen Neuanfang in Deutschland zu wagen. Aber auch die Medien- und Konsumerfahrungen ähneln sich innerhalb einer Altersgruppe. Beispielsweise ist Kölnisch Wasser für die meisten ein vertrauter Duft. Bestimmte Filme und Serien („Lassie“, „Bonanza“, „Starsky & Hutch“) und Stars wie Cary Grant, Pierre Brice oder Romy Schneider sind vielen Senior:innen bekannt.
Im Zentrum der Biografiearbeit in der Altenpflege steht das Wissen um die Lebensgeschichten der Pflegebedürftigen.Je mehr du als Pflegekraft über die einzelnen Bewohner:innen weißt, desto mehr erkennst du sie als individuelle Menschen. Du siehst, welche Persönlichkeit in den Senior:innen steckt. Das trägt zu einer respektvollen und wertschätzenden Pflege bei.Gleichzeitig kannst du nicht-pflegerische Angebote besser auf die einzelnen Personen anpassen. Auf diese Weise gelingt es dir, Pflegebedürftige zu erreichen und zu aktivieren. Ihr Wohlbefinden verbessert sich. Sie fühlen sich von dir wahrgenommen. Biografiearbeit in der Altenpflege ersetzt allerdings keine Therapie. Der Schwerpunkt sollte auf den schönen Momenten des Lebens liegen.
Bei der Biografiearbeit geht es darum, sich der Innensicht des pflegebedürftigen Menschen zu nähern, um ihn besser zu verstehen. Dafür kommen im Idealfall mehrere Methoden zum Einsatz.
In den meisten Pflegeeinrichtungen werden beim Einzug bestimmte Informationen abgefragt und schriftlich festgehalten. Angehörige können teilweise ebenfalls Auskunft geben, etwa zu Essensvorlieben und Gewohnheiten. Allerdings schauen Verwandte von außen auf den pflegebedürftigen Menschen. Ihre Fremdwahrnehmung muss nicht mit der Eigenwahrnehmung übereinstimmen. Vielleicht vergessen Familienmitglieder versehentlich etwas. Oder das, was für die Angehörigen wichtig ist, spielt für die pflegebedürftige Person keine große Rolle. Was beim Einzug entsteht, ist ein erstes grobes Bild, das Altenpflegekräfte in der Folgezeit verfeinern sollten.
Frage die Bewohner:innen direkt nach ihren Erfahrungen oder Vorlieben. Wenn das Vertrauensverhältnis zwischen euch wächst, erzählen sie von sich aus bestimmte Dinge aus ihrem Leben. In Einzelgesprächen bekommst du eher Zugang zu persönlichen und privaten Erlebnissen. Nicht alle möchten sich in der Gruppe mitteilen.
Gruppengespräche und -aktivitäten sind gut geeignet, um das kollektive Gedächtnis zu aktivieren:
Zu Themen wie diesen kann jeder Mensch etwa beitragen. Gegenstände (ein Brot, ein Foto vom Wochenmarkt oder ein Plattenspieler) können die Erinnerungen zusätzlich anstoßen.
Vieles kannst du als Altenpfleger:in im Alltag beobachten. An welchen Aktivitäten nimmt die Person gern teil, an welchen nicht? Welche Speisen stoßen auf Begeisterung? Womit beschäftigt sich der pflegebedürftige Mensch allein? Was steht als Dekoration im Zimmer?
Möglichkeiten zum besseren Kennenlernen ergeben sich auch bei der täglichen Pflege und Versorgung. Falls du etwas Hilfreiches erfährst, mach dir dazu eine Notiz. Das kann in der Alltagshektik schwierig sein. Aber wertvolle Informationen gehen andernfalls verloren.
Mit der Zeit entsteht aus den Selbstaussagen des Menschen, den Auskünften der Angehörigen, individuellen Beobachtungen der Pflegefachkräfte und aus Gesprächen ein immer vollständigeres Bild der Biografie.
Eine weitere Möglichkeit, die Lebensgeschichte einzufangen, bietet der von Sigrid Hofmaier entwickelte „ICH-PASS – Wesentliches über mich“. Dabei handelt es sich um ein Buch mit knapp 100 Seiten zum Ausfüllen. Diese Selbsterforschung ist eine hervorragende Grundlage für die Biografiearbeit mit Menschen aller Altersgruppen. Kinder und junge Erwachsene können sich diesen Fragen und Aufgaben ebenso stellen wie ältere Menschen:
Einiges lässt sich schnell beantworten. Manches braucht Zeit. Das Büchlein dient zur Selbstreflexion und Selbsterkundung. Im Idealfall kommt es zum Einsatz, solange Menschen über sich selbst tiefgreifend Auskunft geben können.Als Alternative können die Bewohner:innen auch ein eigenes Buch aus ihren Erinnerungen gestalten. Angehörige können dabei helfen, indem sie Fotos bereitstellen oder ihr eigenes Wissen beisteuern. In schwierigen Zeiten hilft es, auf schöne Erlebnisse und Erfolge zurückzublicken.
Für die Biografiearbeit mit älteren Menschen können Altenpfleger:innen verschiedene Alltagsgegenstände und Hilfsmittel verwenden.
Bewohner:innen und Angehörige besitzen häufig Fotoalben. Die Bilder lassen sich digitalisieren und am Bildschirm in größerem Format betrachten. Ausgedruckt und eingerahmt können Sie die Erinnerung ebenfalls wachhalten.Alte Aufnahmen von öffentlichen Orten, Postkarten mit Stadtansichten oder Symbolfotos von Schulbesuchen, Hochzeiten und Festen sind gut geeignet, um Gespräche in einer Gruppe in Gang zu bringen.
Angehörige der Kriegs- und Nachkriegsgeneration führten häufig Tagebuch. Poesiealben waren unter Freund:innen und Klassenkamerad:innen ebenfalls beliebt. Möglicherweise gewähren Pflegebedürftige dir Zugang zu ihren persönlichen Aufzeichnungen.
Kirchenlieder, Kinderlieder und Volkslieder sind ebenfalls eine Möglichkeit der Biografiearbeit in der Altenpflege, das Erinnerungsvermögen älterer Menschen zu stärken. Erlebnisse sind oft direkt mit einer bestimmten Musik verknüpft. Oder die Bewohner:innen erinnern sich an geliebte Stars, die sie in der Vergangenheit bewundert haben.
In vielen Alten- und Pflegeheimen gibt es Erinnerungsecken. Dort finden sich Sitzgelegenheiten mit Dekorationsgegenständen aus der Vergangenheit. Das können alte Puppen, eine Nähmaschine oder ein Spinnrad sein. Bilder an den Wänden erinnern an vergangene Erlebnisse: Gut geeignet sind beispielsweise Aufnahmen von Alltagsprodukten, Stars, Politikern, Stadtfotos und Geld. Diese können als Gesprächsanreize genutzt werden.
Besonders Frauen reagieren positiv auf therapeutische Puppen. Bei Demenz kann eine Puppe die Kommunikation erleichtern. Im Idealfall lassen sich Mund, Arme und Beine bewegen. Dabei sprichst du mit hoher Stimme und lenkst die Aufmerksamkeit auf die Puppe. Wichtig ist, dass sie optisch einem Kind ähnelt. Viele Bewohnerinnen entwickeln einen starken Beschützerinstinkt. Sie fühlen sich an die Zeit ihrer Mutterschaft erinnert. Kinderlose Frauen profitieren möglicherweise stärker von Plüschtieren.
Die Biografiearbeit ist in der Altenpflege unverzichtbar. Sie trägt zu mehr Verständnis und zu einer wertschätzenden, individuellen Pflege bei. Die Senior:innen fühlen sich in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen. Die Einbeziehung ihrer Biografie und die Erinnerungspflege stärkt ihr Gedächtnis und ihre vorhandenen Fähigkeiten. Dadurch wächst ihr Wohlbefinden. Das wiederum erleichtert dir den Pflegealltag.