16 Jahre hat es gedauert, die elektronische Patientenakte (ePA) auf den Weg zu bringen. Ab Juli 2021 steht die ePA allen Versicherten auf freiwilliger Basis zur Verfügung. Nutzbar ist sie vorerst in Arztpraxen und Apotheken. Endes des Jahres kommen die Krankenhäuser dazu. Geplant ist, ab 2022 auch Pflegeheime, Physiotherapie-Praxen und die Entbindungspflege an die Telematikinfrastruktur anzuschließen. Hier erfährst du, welche Vor- und Nachteile bei der digitalen Patientenakte zu berücksichtigen sind.
Dieses Thema betrifft dich als Pflegefachkraft doppelt: Einerseits bist du selbst auch Patientin bzw. Patient, andererseits kommt spätestens nächstes Jahr auch beruflich die Beschäftigung mit der ePA auf dich zu. Erste Informationen findest du in unserem Artikel „Die elektronische Patientenakte kommt“. Jetzt ist sie da:
Seit dem 1. Juli 2021 müssen in Deutschland Arztpraxen sämtliche ePA lesen und mit Daten füllen können. Ist eine Arztpraxis dazu nicht in der Lage, droht eine Honorarstrafe in Höhe von einem Prozent. Als gesetzlich Versicherte:r hast du ein Anrecht darauf, deine medizinischen Unterlagen in digitaler Form zu erhalten – wenn du das möchtest. Die Teilnahme ist für dich als Patient:in freiwillig.
Arztbriefe auf Papier gehören möglicherweise bald der Vergangenheit an, wenn die Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter voranschreitet. In der elektronischen Patientenakte sammeln sich mit der Zeit Befunde, Blutwerte, Röntgenbilder, der elektronische Medikationsplan und Notfalldaten. Bald kommen der elektronische Impfpass und das Kinderuntersuchungsheft dazu. Im Idealfall ist irgendwann deine gesamte Krankengeschichte in der digitalen Patientenakte hinterlegt.
Für die Zukunft sind weitere Funktionen und Möglichkeiten für Nutzer:innen vorgesehen, denn Vorteile ergeben sich nicht nur in Bezug auf die Diagnostik und Behandlung: Als Patient:in gewinnst du damit ein Stück Selbstbestimmung und die Möglichkeit, dich aktiver und bewusster um deine Gesundheit zu kümmern. Der Zugriff der Arztpraxen auf die ePA erfolgt über die Telematikinfrastruktur. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk, das Kliniken, Praxen, Apotheken und Krankenkassen miteinander verbindet. Allerdings sind noch nicht alle Stolpersteine beseitigt.
Die ePA hat zahlreiche Vorteile: Patientinnen und Patienten bekommen Einblick in ihre medizinischen Dokumente. Der Zugriff auf die eigenen Unterlagen ermöglicht es Versicherten, selbst zu recherchieren und gezielte Rückfragen zu stellen. Das ist ein wichtiger Schritt dazu, die Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.
Ein weiterer Pluspunkt ist, dass du in deine ePA eigene Dokumente hochladen kannst. Das kann ein Blutdrucktagebuch, ein Schmerztagebuch oder die Dokumentation von Migräneanfällen sein. Diese Unterlagen sind dann papierlos verfügbar und müssen nicht mühsam aus irgendwelchen Schubladen und Aktenordnern zusammengesucht werden.
Die Einrichtung einer elektronischen Patientenakte ist freiwillig. Wenn du dich für die ePA-App deiner Krankenkasse entscheidest, bestimmst du, wer die Krankenakte sehen darf und wer nicht. Die Erlaubnis dazu kannst du auch wieder entziehen. Zwar steht bei vielen Menschen die Angst im Raum, zu einem gläsernen Menschen zu werden. Diese Sorge ist allerdings weitgehend unbegründet.
Schon jetzt lagern deine medizinischen Daten auf unzähligen Computern in digitaler Form. Sie existieren aber auch analog, in Form von Notizzetteln, Kalendereinträgen und in ausgedruckten Arztbriefen. Neu ist, dass die ePA all diese Schriftstücke an einem Ort bündelt. Arbeitgeber haben darauf keinen Zugriff.
Auch Krankenkassen dürfen lediglich Unterlagen in der digitalen Patientenakte ablegen. Einsicht in die dort hinterlegten Dokumente haben sie nicht. Falls du bestimmte Befunde nicht in deiner ePA gespeichert haben möchtest, kannst du sie selbstständig löschen. (Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die meisten elektronischen Patientenakten nicht vollständig sein werden. Das heißt, die ePA ersetzt nicht das Gespräch mit Kranken, Pflegebedürftigen und Angehörigen!)
Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 20.000 Menschen wegen Doppelmedikation oder Wechselwirkungen zwischen Medikamenten. Durch die Vernetzung innerhalb des Gesundheitswesens passieren weniger Fehler. Hinweise auf Allergien, bereits verabreichte Präparate oder Diagnosen aus anderen medizinischen Disziplinen erleichtern der aktuell behandelnden Ärztin bzw. dem aktuell behandelnden Arzt die richtige Einordnung von Beschwerden und die Behandlungsmöglichkeiten. Doppeldiagnosen und Behandlungsfehler werden auf diese Weise vermieden. Der Zugriff auf deine Krankenakte ist beispielsweise hilfreich, wenn wegen eines Umzugs ein Arztwechsel bei dir ansteht.
Noch ein wichtiger Vorteil: Bei einer schweren Diagnose möchtest du vermutlich eine zweite Meinung einholen. Das ist mit Hilfe der ePA ebenfalls leichter. Du brauchst nicht erst um deine Unterlagen bitten und dich erklären. Du hast sie in papierloser Form ohnehin mit dabei.
Es gibt nach wie vor gewisse Herausforderungen, die es bezüglich der elektronischen Patientenakte zu bewältigen gilt.
Am PC funktioniert der Zugriff auf die ePA nicht. Du brauchst ein Smartphone oder ein Tablet, wenn du die App nutzen möchtest. Aber nur vier von zehn Seniorinnen und Senioren nutzen ein Smartphone. Tablets sind bei älteren Menschen noch seltener zu finden. Damit bleibt eine große Gruppe von der Nutzung der App ausgeschlossen.
Ab 2022 soll es möglich sein, die elektronische Patientenakte von einer dritten Person verwalten zu lassen. Das allerdings bedeutet, dass Familienangehörige oder eine andere beauftragte dritte Person Einblick in die sensiblen Gesundheitsdaten (Diagnosen, Behandlungen und Medikamente) erhalten. Die Seniorinnen und Senioren haben eventuell nicht einmal die Möglichkeit, sich ihre Unterlagen allein für sich anzuschauen. Statt mündiger werden sie also unmündiger.
Was hier fehlt, ist eine Software für den Computer, sodass sich alle Versicherten eigenständig, persönlich und privat um ihre Gesundheit kümmern können.
Ein weiteres großes Problem ist der Datenzugriff: Bislang kannst du als Patient:in nur entscheiden, ob du deine medizinischen Unterlagen komplett oder gar nicht zur Verfügung stellen möchtest. Es ist noch nicht möglich, den Zugriff nur auf ein bestimmtes Dokument zu beschränken oder Unterlagen gezielt auszuklammern. Angenommen, du gehst zu einer zahnärztlichen Behandlung. Dann möchtest du eventuell nicht, dass deine Zahnärztin deine Blutergebnisse sieht, von deiner Schwangerschaft erfährt oder weiß, welche Medikamente du nimmst.
Die Möglichkeit, nur einen selektiven Zugriff zu gewähren, soll ab 2022 eingeräumt werden. Allerdings ist dies ein zweischneidiges Schwert: Vielleicht klammert ein:e Patient:in dann medizinische Unterlagen aus, die für eine korrekte Diagnose und Versorgung allerdings wichtig wären.
Zur Datenübertragung braucht jede Arztpraxis einen sogenannten Konnektor, eine Art Router zum Anschluss an die Telematikinfrastruktur. Wird das Gerät nicht richtig angeschlossen, können Dritte auf die Daten zugreifen. Das entdeckten IT-Experten bei einer Recherche von BR und NDR im Dezember 2020, zwei Wochen vor Einführung der digitalen Patientenakte. Bei ihrem Test verschafften sie sich immerhin Zugang zu 200 Konnektoren. 30 davon waren überhaupt nicht geschützt.
In einer Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums heißt es dazu: Gerne „wird die Gematik in Zukunft regelmäßig eigene Sicherheitstests durchführen, um auch etwaige Fehlkonfigurationen (…) frühzeitig zu erkennen.“Die Gematik ist Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH., Betreibergesellschaft der Telematikinfrastruktur und zuständig für die Einführung, Pflege und Weiterentwicklung der Krankenkassenkarte.
Wie verheerend sich eine Sicherheitslücke auswirken kann, zeigte ein Datenleck in Finnland im Oktober 2020. Beinahe jede:r fünfte Einwohner:in Finnlands leidet unter psychischen Problemen. Hacker brachten vertrauliche Informationen aus Sitzungen des Psychotherapieanbieters Vastaamo an sich. Darunter fanden sich neben Diagnosen und Tagebuchaufzeichnungen auch die Kontaktdaten von mehreren zehntausend Menschen. Die Täter erpressten die Patientinnen und Patienten: Wer die geforderte Geldsumme – umgerechnet etwa 200 Euro – nicht zahlte, wurde mit einer öffentlichen Bloßstellung bedroht.
Die ePA ist ein wichtiger Schritt in der Digitalisierung des Gesundheitswesens: Sie verbessert die Versorgung von Patientinnen und Patienten. Doppeluntersuchungen, doppelte Medikamentengaben und Wechselwirkungen zwischen Präparaten können vermieden werden. Allerdings sind möglicherweise gerade zwei der Vorteile – dass Patient:innen selbst entscheiden, was in der elektronischen Patientenakte gespeichert wird und wer die Unterlagen sehen darf – für das medizinische und pflegerische Fachpersonal nachteilig. Schließlich ist es wenig hilfreich, wenn zwar der Impfpass sichtbar ist, aber nicht der Befund des Internisten oder der elektronische Medikationsplan. Dann geht das Puzzeln trotz ePA weiter.
Michaela Hövermann