Wissenschaft + Praxis: Pflege an der Alice Salomon Hochschule studieren

Prof. Dr. Johannes Gräske spricht im Interview über die Besonderheiten des Pflegestudiengangs an der ASH Berlin.

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Wir haben mit dem Leiter des Studiengangs Pflege der Alice Salomon Hochschule über Chancen und Hürden des Pflegestudiums gesprochen.

Im Wintersemester 2020/2021 ist an der Alice Salomon Hochschule (ASH Berlin) der primärqualifizierende Studiengang Pflege gestartet. Mit diesem Pflegestudium erlangen die Studierenden sowohl ihre Berufszulassung als auch einen international anerkannten Bachelor-Abschluss im Rahmen einer akademischen Hochschulausbildung. Nach sieben Semestern schließen sie mit einem Bachelor of Science und einer Prüfung zur Pflegefachfrau bzw. zum Pflegefachmann ab. Das neue Studienmodell steht nicht nur Menschen mit Abitur offen, sondern auch Pflegekräften mit abgeschlossener Berufsausbildung und mindestens drei Jahren Berufserfahrung.

Prof. Dr. Johannes Gräske ist Leiter des Pflegestudiengangs. Im Interview mit uns erklärt er, vor welchen Herausforderungen die akademische Pflege steht, wie er Virtual Reality im Pflegestudium nutzen möchte und welche Note er Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erteilt.



Die Pflege ist ein klassischer Ausbildungsberuf. Warum hat sich Ihre Hochschule dennoch entschieden, einen primärqualifizierenden Studiengang ins Leben zu rufen?

Weil die Versorgungssituation viel komplexer geworden ist. Heute haben wir vergleichsweise viele ältere Menschen mit einem hohen Pflegebedarf und mehreren Grunderkrankungen. Auch die pflegewissenschaftliche Forschung hat deutlich zugenommen. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Literatur ans Bett zu transferieren, brauchen wir eine akademische Pflege.

Können Pflegekräfte an der ASH auch berufsbegleitend studieren?

Ja. Wir richten uns nach dem, was die Studierenden wollen. Ob sie weiter arbeiten wollen und jedes Semester nur ein, zwei Module machen oder ob sie zwei Jahre aus dem Beruf rausgehen. Wir berücksichtigen die unterschiedlichen Lebenswege. Wenn eine Pflegekraft eine klassische dreijährige Ausbildung hat und zu uns kommt, bekommt sie 50 Prozent des Studiums pauschal anerkannt. Das heißt, sie muss nur noch die wissenschaftlichen Module und die Module der hochkomplexen Versorgung belegen.

Besteht ein großes Interesse an dem Pflegestudiengang?

Es ist ein bundesweites Problem, dass diese Studienplätze unter 50 Prozent ausgelastet sind. Es liegt daran, dass der Bekanntheitsgrad des Pflegestudiums noch immer eher gering ist. Und an der fehlenden Vergütung. Während der Ausbildung im Gegensatz zum Studium über 1.000 Euro zu bekommen, ist einfach ein schlagendes Argument. Auch die Freiheit des Studiums mit langen Semesterferien gibt es im Pflegestudium so nicht, weil Praktika absolviert werden müssen. Wir müssen politisch nachsteuern, um die Attraktivität des Studiums zu erhöhen.

Dazu trägt vielleicht auch Ihre Ausstattung bei. Sie haben ein Skills-Lab, in dem die Studierenden miteinander pflegerische Handlungen in einem authentischen Umfeld üben können. Außerdem wollen Sie Virtual Reality nutzen. Treffen die Studierenden trotzdem noch auf echte Pflegebedürftige?

Bis auf das siebente Semester, wo sie die Bachelorarbeit schreiben, treffen sie in jedem Semester auf Pflegebedürftige. Die Studierenden machen vier- bis zwölfwöchige Praktika und im sechsten Semester findet die staatliche praktische Prüfung statt. Im Skills-Lab bereiten sie sich im Rahmen von Simulationen auf die Praxis vor.

Virtual Reality ist ein Forschungsprojekt von mir. Gemeinsam mit Game-Designern der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin versuchen wir, virtuelle Realitäten aufzubauen, um pflegerische Handlungen zu üben. Wir haben ein Szenario entwickelt, wo es darum geht, Blutentnahmen durchzuführen – vom Auftrag über das Zusammenstellen der Materialien bis zur Umsetzung im Zimmer. Dabei geht es weniger um das Manuelle, sondern eher um die Abläufe. Unser Skills-Lab wurde eins zu eins virtuell nachgebaut. Wir wollen herausfinden, ob es auch Lerneffekte bringt, wenn man es den Studierenden zu Hause zur Verfügung stellt, sodass sie eigenständig üben können. Wir sind noch ganz am Anfang, aber ich hoffe, dass es sich bald etabliert.


Prof. Dr. Johannes Gräske Alice Salomon Hochschule Berlin


Neben dem Bachelor of Science beenden die Studierenden der Alice Salomon Hochschule ihr Pflegestudium mit der Berufsbezeichnung Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann. Was ist, wenn man lieber studierter Kinderkrankenpfleger oder studierte Altenpflegerin sein will?

Laut Gesetz gibt es nur die generalistische Ausbildung im Hochschulstudium. Das heißt, diese beiden Schwerpunkte der beruflichen Ausbildung gibt es in der hochschulischen Ausbildung nicht. Allerdings ist Gerontologie bei uns auch ein Schwerpunkt im Pflegestudiums. Grundsätzlich können unsere Absolvent:innen in allen Bereichen arbeiten.


Pflegestudium ASH Berlin


Sind Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen auf Pflegekräfte mit akademischem Hintergrund eingestellt oder ist evidenzbasierte Pflege auf wissenschaftlicher Basis vielleicht gar nicht gewollt?

Wir haben unterschiedliche Erfahrungen. Viele Einrichtungen und Führungskräfte sind aufgeschlossen. Sie sehen die Vorteile einer qualitativen Steigerung durch akademisiertes Personal. Es entstehen natürlich praktische Fragen für sie, zum Beispiel wie die Pflegekräfte eingesetzt und vergütet werden. Wir würden uns wünschen, dass die Einrichtungen aktiver ihr Personal zu uns schicken. Wir wissen aber alle, dass der Pflegemarkt leer ist und niemand freiwillig eine Pflegeperson abgibt, auch nicht für ein Studium. Wobei es eben auch ein Instrument sein kann, Personal zu gewinnen, wenn man im Vorstellungsgespräch die Möglichkeit eines Studiums aufzeigt.



Mehr Studienplätze zu schaffen und die Akademisierung der Pflege voranzutreiben, ist eines der Ziele der Konzertierten Aktion Pflege. Welche Note erteilen Sie in dieser Hinsicht unserem Gesundheitsminister?

Man muss fairerweise sagen, dass Herr Spahn und die Bundesregierung durchaus Dinge angepackt haben, von denen viele der Vorgänger die Finger gelassen haben. Ich würde ihm eine Drei geben, weil er es zumindest angegangen ist. Wir müssen viele Dinge nachsteuern – das Pflegeberufegesetz regelt vieles gar nicht und überreguliert anderes. In meiner, akademischen, Wahrnehmung fokussieren sich die Werbekampagnen des Bundesfamilienministeriums stark auf die berufliche Ausbildung und die akademische Pflege fällt im Moment ein bisschen unter den Tisch.

Was muss auf politischer Ebene passieren?

Ich würde mir eine klare Zuständigkeit wünschen – dass sich ein Ministerium verantwortlich fühlt und dass sich nicht Bund und Länder die Bälle hin und her spielen. Wir brauchen eine konkrete Ansprechperson. Das zweite ist die fehlende Vergütung, sowohl für die Studierenden, als auch für die Praxiseinrichtungen. Wir müssen von der Pflege als Helferberuf wegkommen und hinkommen zu eigenverantwortlichen Modellen des School Nursing oder des Advanced Nursing Practice. Wir brauchen ein Berufsbild, in dem wir Kompetenzen übernehmen, die wir sowieso schon haben und das uns von dem ärztlichen Beruf liberalisiert.

Zu den Schwerpunkten des Pflegestudiums an Ihrer Hochschule gehören Diversity und Gendersensibilität. Inwiefern ist dies in der Pflege ein Thema?

Wir bekommen immer wieder die Rückmeldung, dass das hochaktuell ist. Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft, in der beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund jetzt in einem Alter sind, in dem sie pflegebedürftig werden. Wir haben schwul-lesbische Pflegeeinrichtungen, mit denen wir kooperieren. Die Einrichtungen versprechen sich etwas davon, Studierende mit diesen Kompetenzen zu übernehmen.

Die Akademisierung der Pflege verbessert zwar nicht automatisch die Arbeitsbedingungen des Pflegeberufs. Doch ein Studium kann Pflegekräften neue Perspektiven und Karrierechancen eröffnen. Es gibt ihnen die Möglichkeit, sich beruflich weiterzubilden und sich selbstbewusst auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Um die Potentiale des Pflegestudiums in Bezug auf Fachkräfte und Pflegequalität voll auszuschöpfen, müssen der Gesetzgeber sowie die Kliniken und Pflegeeinrichtungen jedoch auch die richtigen Bedingungen schaffen. Ein „stets bemüht“ reicht hier nicht.

Friederike Bloch



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