Das Pflegesystem in Norwegen – skandinavisches Modell als Vorbild?

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Judith Marlies Barth


Das Pflegesystem in Norwegen unterscheidet sich stark von unserem deutschen Modell. Viele Pflegekräfte zieht es deshalb in den Norden. Warum Pflegeberufe dort einen höheren Stellenwert haben als bei uns, was das mit dem dortigen Gesundheitssystem zu tun hat und wie die Arbeitsbedingungen tatsächlich aussehen, liest du in unserem Artikel.

Dass Pflegeberufe in Deutschland häufig fordernd und nicht ausreichend bezahlt sind, ist kein Geheimnis. In Norwegen sieht das anders aus. Eine Tätigkeit im Gesundheitswesen ist in Skandinavien wesentlich attraktiver, das lässt sich auch in Zahlen belegen. Umgerechnet auf die Einwohner:innenzahl kann Norwegen die meisten Pflegekräfte der Welt vorweisen. Auf 10.000 Einwohner:innen kommen dort 163 Krankenpfleger:innen, während es in Deutschland lediglich 80 sind. Grund dafür ist das Pflegesystem in Norwegen.

Das Pflegesystem in Norwegen: Beveridge-Modell im Check

Das norwegische Gesundheitssystem basiert auf dem Beveridge-Modell, das übrigens nicht nur in sämtlichen Ländern Skandinaviens, sondern auch in Großbritannien, Italien, Portugal und Spanien zum Einsatz kommt. Es wird auf William Henry Beveridge zurückgeführt, der in den 1940er Jahren Mitglied der liberalen Fraktion des britischen Parlaments war. 1942 legte er dem Parlament einen umfangreichen Report zur Sozialpolitik vor. Seine Vorschläge zur Errichtung eines umfassenden Systems sozialer Sicherheit liefern bis heute die Grundlage des britischen Gesundheitssystems, an dem sich auch Norwegen orientiert. Das norwegische Modell ist ein Fürsorgemodell. Bedeutet: alle Bürger:innen verfügen über eine Vollversicherung, müssen allerdings eine finanzielle Selbstbeteiligung leisten. Das komplette Gesundheitssystem wird über Steuern finanziert und funktioniert zentralistisch, wird also vom Staat gesteuert.

Vorteile des Beveridge-Modells gegenüber dem deutschen Gesundheitssystem

Das Pflegesystem in Norwegen hat einige entscheidende Vorteile:

  • durch Steuern sind alle am Gesundheitssystem beteiligt
  • Menschen mit geringem Einkommen können auf gesicherte Versorgung bauen
  • keine Bevölkerungsgruppe wird benachteiligt
  • wenig externe Einflussnahme (z. B. durch Unternehmen)

Zum Vergleich: In Deutschland, wo das Gesundheitssystem an das Bismarck-Modell angelehnt ist, ist ein Missbrauch des Systems durch Lobbyismus leichter möglich. Zudem muss mit den Patient:innen finanzieller Gewinn gemacht werden. Das führt dazu, dass möglichst wenige Arbeitskräfte möglichst viele Kranke betreuen müssen, da sonst kein Profit erwirtschaftet werden kann. Außerdem besteht durch die Unterscheidung zwischen privat und gesetzlich Versicherten das Problem der Zweiklassenmedizin.

Nachteile des norwegischen Pflegesystems: Das läuft in Deutschland besser

Das skandinavische Modell hat allerdings auch einige Nachteile. Hier findest du die wichtigsten Kontra-Argumente im Überblick:

  • Staat kann Leistungen regulieren (wenn ein bestimmtes Medikament zu teuer ist, ist es nicht verfügbar)
  • wenig alternative Heilmethoden
  • wenn Steuereinnahmen sinken, steigt Selbstbeteiligung

Bei uns hingegen gibt es eine große Auswahl an Therapieformen, Leistungen und Medikamenten. Menschen, die sich eher zu alternativen Heilmethoden hingezogen fühlen, werden in Deutschland problemlos fündig. Die Selbstbeteiligung der Erkrankten ist gering.


Norwegische Landschaft


Auswirkungen des Systems auf die Pflege: Arbeitsbedingungen in Norwegen

Für Pflegekräfte und Ärzt:innen in Norwegen bedeutet das Beveridge-System vor allem eins: mehr Zeit für die Patient:innen. Ein erstes Aufnahmegespräch dauert in Norwegen durchschnittlich 90 Minuten. Das kommt sowohl den Ärzt:innen und Pflegenden als auch den Erkrankten zugute. Die Patient:innen werden getreu des ganzheitlichen Ansatzes Norwegens stets in die Entscheidungen einbezogen. Priorität hat immer die Autonomie der pflegebedürftigen Person. Was in Norwegen für Pflegekräfte noch anders läuft, haben wir hier für dich zusammengefasst:

  • eine Pflegekraft betreut maximal vier Patient:innen (in Deutschland ist das Verhältnis 1:13)
  • „Shared Decision Making“ (enge Kommunikation zwischen Patient:innen, Ärzt:innen und Pflegenden)
  • mehr Pflegekräfte pro Schicht (Auszubildende zählen nicht in den Personalschlüssel)
  • kürzere Arbeitszeiten (maximal 35,5 Stunden pro Woche)kaum Überstunden
  • ruhigere Nachtschichten (Patient:innen schlafen durch, kein Umbetten, keine Medikamentenvergabe, kein Waschen)
  • maximal zwei Nachtschichten innerhalb von sechs Wochen, danach zwei Tage frei
  • bezahlte Weiterbildungen
  • höheres Einkommen (durchschnittlich 4.100 Euro brutto im Monat)
  • höheres gesellschaftliches Ansehen

Pflege auf Augenhöhe: Darum genießen Pflegekräfte in Norwegen einen so hohen Status

Das soziale Ansehen von Pflegekräften ist in Skandinavien wesentlich höher als hierzulande. Von Patient:innenseite erfahren sie fachliche Wertschätzung und Vertrauen. Niemand würde dort auf die Idee kommen, den Rat einer Pflegekraft auszuschlagen und sofort nach einer Ärztin oder einem Arzt zu rufen.

Ein Grund für die starke Stellung der Pflege besteht darin, dass Ärzt:innen in Nordeuropa knapp und teuer sind. Mediziner:innen werden nur in der Zahl ausgebildet, die der zuvor errechnete Bedarf vorgibt. In Norwegen kommen auf eine Ärztin bzw. einen Arzt vier Pflegekräfte. In Deutschland ist das Verhältnis mit drei zu eins etwas ausgeglichener.

Zudem ist die Pflegeausbildung in Norwegen bereits seit den 80er Jahren wesentlich akademisierter als es in Deutschland der Fall ist. Viele Pflegekräfte dort haben einen Bachelor-Abschluss und führen die offizielle Berufsbezeichnung „Registrierte Krankenschwester“ bzw. „Registrierter Krankenpfleger“. Pflegekräfte übernehmen in Skandinavien oft Aufgaben, die bei uns den Ärzt:innen vorbehalten sind. Sie besuchen Patient:innen zu Hause, überweisen Kranke zu Fachmediziner:innen oder verordnen selbstständig Medikamente. Neben dem dreijährigen Grundstudium verfügen Pfleger:innen in Norwegen häufig über zusätzliche Spezialausbildungen, z. B. in den Bereichen Intensivmedizin, Kinderkrankenpflege oder Psychiatrie.

Akademisierte Pflege in Deutschland: Wir müssen aufholen

Verglichen mit den skandinavischen Ländern liegt Deutschland bei der Akademisierung der Pflege weit zurück. Hierzulande geht einer Tätigkeit im Pflegebereich meist eine Ausbildung voran. Der Prozentsatz der wissenschaftlich ausgebildeten Pflegekräfte ist verschwindend gering. Gerade einmal 0,34 Prozent der Pflegenden in ambulanten Pflegediensten verfügen über einen Hochschulabschluss, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen hervorging.



Auch in der deutschen Bevölkerung mangelt es noch an Verständnis für die Akademisierung. Alicia Haug, selbst Studentin der Pflege- und Gesundheitswissenschaften, erklärt gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Fragen wie „Warum muss man studieren, um Bettpfannen zu wechseln und Hintern abzuputzen?“ für sie zum Alltag gehören. Im Vergleich zu Norwegen hat Deutschland in Bezug auf die Akademisierung also noch einen weiten Weg vor sich.

Pflegekräfte in Norwegen verdienen im Schnitt mehr und werden stärker in Entscheidungen einbezogen. Das liegt vor allem am skandinavischen Gesundheitssystem und an ihrer Hochschulausbildung. Auch in Bezug auf Wertschätzung gegenüber Alten- und Krankenpfleger:innen können wir uns an Norwegens Pflegesystem ein Beispiel nehmen. Bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor kommen allen zugute, nicht nur den Ärzt:innen und Pflegekräften, sondern auch den Patient:innen.

Judith Marlies Barth


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