Wie gelingt es, sensibel auf die Bedürfnisse homosexueller Senior:innen einzugehen? Wir haben Beispiele, Tipps und Infos.
Im Juni, dem LGBTQIA+ Pride Month, widmen wir uns einer Frage, die in der Pflegeausbildung kaum eine Rolle spielt: Homosexualität von Senior:innen. Einige Pflegekräfte sind dementsprechend unsicher im Umgang mit lesbischen und schwulen Pflegebedürftigen. Wie lässt sich im Alter ein Lebensumfeld schaffen, in dem sie sich akzeptiert und wahrgenommen fühlen? Wissen über den kulturellen und sozialen Hintergrund schafft hier eine gewisse Basis.
Die spontane Reaktion von Pflegenden auf dieses Thema ist häufig: „Ich pflege jeden. Mir ist die Sexualität egal.“ Das signalisiert Toleranz und ist ein guter Anfang. Doch ohne ein tieferes Bewusstsein für die Lebenswelt homosexueller Menschen ist es kaum möglich, sensibel auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihnen ein angstfreies Umfeld im Alter zu schaffen. Die Reduktion auf die sexuellen Handlungen bedeutet außerdem, dass die biografische und kulturelle Identität homosexueller Seniorinnen und Senioren außen vor bleibt. „Lesbische und schwule Pflegebedürftige haben wie heterosexuelle das Bedürfnis, als Menschen – also als Subjekte mit eigenen Lebensgeschichten – wahrgenommen, betreut und gepflegt zu werden“, erklärt der systemische Therapeut und Diplom-Pflegewirt Dr. Heiko Gerlach.
Für Pflegefachkräfte stellt dies eine Herausforderung dar. Eine individuelle Pflege ist in Zeiten des ständigen Personal- und Zeitmangels ohnehin schwer zu verwirklichen. „Wenn keine Zeit für eine individuelle, bedürfnisorientierte Pflege bleibt, sind Lesben und Schwule davon besonders stark betroffen“, so der Experte.
Lesbische und schwule Pflegebedürftige bringen andere Lebenserfahrungen und einen anderen kulturellen Hintergrund mit als heterosexuelle.Ihre Lebenswelten unterscheiden sich gravierend: In der NS-Zeit wurden Homosexuelle diskriminiert und mit einem rosa Dreieck gekennzeichnet. Schwule Männer galten noch weit über 1945 hinaus als kriminell: Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches wurde erst am 11. Juni 1994 abgeschafft. Bis dahin standen sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen männlichen Geschlechts unter Strafe.
Bis Ende des 20. Jahrhunderts galt die gleichgeschlechtliche Liebe als Krankheit. Erst dann verschwand der Eintrag aus den psychiatrischen Klassifikationssystemen: 1987 entfiel die Homosexualität aus dem DSM-III-R, vier Jahre später aus dem ICD-10.
Die gesellschaftliche Akzeptanz von Lesben und Schwulen ist in Deutschland heute größer als je zuvor. Trotzdem erleben homosexuelle Frauen und Männer nach wie vor Diskriminierung im Alltag. Seniorinnen und Senioren kennen härtere Zeiten: Sie haben Gewalterfahrungen gemacht, galten als kriminell oder wurden als psychisch krank abgestempelt. Für manche war ein Doppelleben der einzige Ausweg. Eine Scheinehe machte es leichter, die eigene Sexualität zu verbergen. Allerdings blieb das nicht ohne Spuren. Der Zwang zum ständigen Versteckspiel stürzte viele Betroffene in Depressionen, Trauer und Einsamkeit. Doch auch die ersten offen lebenden Aktivist:innen sind inzwischen älter geworden und brauchen Unterstützung.
Homosexualität galt lange als psychische Störung. „Behandlungen“ und „Therapien“ zielten darauf ab, die sexuelle Orientierung zu verändern oder zu unterdrücken. Darunter leiden viele Lesben und Schwule ein Leben lang. Für die Betroffenen ist das Gesundheitswesen mit Angst verbunden. Aus Furcht vor erneuter Diskriminierung leben sie im Pflegeheim schlimmstenfalls ein unfreiwilliges Doppelleben. Die Not und Überforderung betroffener älterer Menschen bleibt Pflegekräften häufig verborgen.
Die Aktivistin Gabi Stummer vom Netzwerk lesbischer Pflegeexpertinnen beklagt besonders die Situation homosexueller Frauen: „Pflege findet ohne lesbische Lebensrealitäten statt.“ Fachkräfte nähmen ältere und hochbetagte Lesben überhaupt nicht wahr. Dass diese Frauen teilweise lebenslang mit Verständnislosigkeit, Ablehnung und Ausgrenzung zu kämpfen hatten und jetzt besondere Bedürfnisse haben, ist noch nicht ins Bewusstsein der Pflege vorgedrungen.
Wie sehr Gabi Stummer damit die tatsächliche Lebenswelt lesbischer Seniorinnen einfängt, verdeutlicht Sabine L., Altenpflegerin in einem Pflegeheim im Harz: „Eine bettlägerige Dame bekam jeden Tag Besuch von einer etwas jüngeren alten Dame. Wir dachten, das sind Schwestern.“ Dass es sich um ihre Lebenspartnerin handelte, erfuhren sie erst nach dem Tod der pflegebedürftigen Seniorin.„Warum hat sie denn nie etwas gesagt?“
In einem anderen Pflegeheim weigerte sich eine rüstige Seniorin beharrlich, ihr Zimmer zu verlassen. Sie kam nicht zum gemeinsamen Essen. An keiner Aktivität nahm sie teil. Das Pflegepersonal redete mit viel Geduld auf sie ein. Aber sie ließ sich nicht dazu bringen, ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Das änderte sich erst, als ein offen homosexuell lebender Pfleger dort anfing. Zu ihm fasste die Seniorin schließlich Vertrauen: „Ich will mich nie wieder verstecken wie früher.“ Als solches empfand sie es, sich beim gemeinsamen Essen zwischen die heterosexuellen Frauen setzen zu müssen. Eine paradoxe Situation: Sie versteckte sich, um sich nicht verstecken zu müssen. Sie war eine gebildete, schüchterne Dame und wollte nicht anecken. Gerade darum galt sie beim Personal als schwierig. Für ein Coming-Out fehlte ihr der Mut. „Ich bin doch ganz allein.“ Sie befürchtete, sich erklären und womöglich rechtfertigen zu müssen. „Ich will nicht, dass alle über mich reden.“ Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig ein akzeptierender, wertschätzender Umgang mit Homosexualität ist.
Laut Dr. Heiko Gerlach verschweigen viele homosexuelle Seniorinnen und Senioren im Altenheim ihre Identität. Dahinter steht die Angst vor Diskriminierung.Sie befürchten:
Das Bewusstsein um die Vergangenheit Homosexueller ist die Grundlage für eine kultursensible Pflege. Das Leben vieler alter und betagter Lesben und Schwuler war durch Diskriminierung und Stigmatisierung geprägt. Ziehen sie im Alter aus gesundheitlichen Gründen in ein Senioren- oder Pflegeheim, büßen sie einen Teil ihrer Freiheit und ihres selbstbestimmten Lebens ein. Das erfordert ein erneutes Coming-Out. Nicht alle möchten das Thema von sich aus anschneiden.Das stellt Altenpfleger:innen vor eine schwierige Aufgabe: Gelingt es ihnen, sensibel auf die Bedürfnisse homosexueller Pflegebedürftiger einzugehen?Davon hängt ein Stück weit ab, ob ein angstfreier Lebensraum entsteht, in dem sie sich angenommen und aufgehoben fühlen.
Es ist wichtig, Pflegebedürftigen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Eine erneute Traumatisierung und Gefühle der Ausgrenzung sollten unbedingt vermieden werden. In einer offenen, wertschätzenden Atmosphäre ist es für ältere Homosexuelle leichter, sich zu öffnen. Wenn sie das möchten.
Dabei helfen Gespräche und offene Augen. Wenn etwa Biografie-Arbeit stattfindet, gilt es, Zeichen, Symbole und Hinweise auf Fotos zu erkennen und richtig zu deuten. Die Anknüpfung an die, oft schmerzhafte, Vergangenheit ist wichtig.
Symbole und Zeichen stellen einen entscheidenden Teil der lesbischen und schwulen Kultur dar. Sie dienten als Erkennungsmerkmale in einer Zeit, als Treffen nur im Verborgenen möglich waren. Allerdings verändern sich diese Symbole und Zeichen im Lauf der Zeit:
Aber ebenso zählen Verständnis und Respekt für die Gegenwart. Wichtig ist eine LGBTQIA+-freundliche und aufgeschlossene Grundeinstellung. Diskriminierung in Form von abschätzigen Kommentaren sollte rigoros unterbunden werden.
Anknüpfungsmöglichkeiten für Gespräche:
Mit dem Wissen um den kulturellen Hintergrund von Lesben und Schwulen und einer positiven Grundhaltung ist eine kultursensible Pflege möglich. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei homosexuellen Pflegekräften zu: Je offener sie mit ihrer eigenen Sexualität umgehen, desto einfacher ist es für homosexuelle Pflegebedürftige, sich zu öffnen.
Ein aufgeschlossenes, tolerantes und wertschätzendes Miteinander von Pflegefachkräften und Bewohner:innen trägt dazu bei, dass ältere, alte und betagte Lesben und Schwule einfach sie selbst bleiben, ohne ihre Identität zu verlieren. Das ermöglicht ein würdevolles Altern.
Michaela Hövermann