Als Pflegekraft völlig überfordert im Job? Das hilft jetzt!

Coach Silke Wüstholz erklärt, warum Corona eine Chance für Pflegekräfte sein kann und warum Jammern nicht hilft.

Silke Wüstholz arbeitete früher selbst als Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivmedizin, heute berät sie als Coach Ärzte und Pflegepersonal, vor allem in Sachen Burn-Out-Prävention. Sie weiß nicht nur aus eigener Erfahrung, was schlechte Stimmung im Team auslösen kann, sondern auch, wie es ist, wenn der Job so stressig ist, dass man sogar vergisst zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Ich will mit ihr besprechen, welche neue Überforderung die Corona-Krise auslösen kann. Wir treffen uns zum Interview in ihrem Homeoffice in Karlsruhe – per Videocall.

Silke, du bist Coach und arbeitest viel mit Pflegekräften zusammen. Wie hat sich deren Berufsalltag seit Corona verändert? Fühlen sich gerade alle überfordert?

Es gibt da gerade ein sehr unterschiedliches Erleben. Einige Kliniken sind total runtergefahren, die warten auf die große Tsunami-Welle, die auf sie zukommt und können gerade kaum arbeiten, müssen aber trotzdem irgendwie da sein. Ausserdem gibt es die Pflegekräfte im ambulanten Dienst. Sie sind oft der einzige Ansprechpartner für die Menschen, die sie betreuen. Was sicher nicht einfach ist für sie. Dann haben wir festangestellte Pflegekräfte, die sich gerade krankmelden. Die sagen „Nö, das mache ich gerade nicht mit”. Ich habe von Pflegediensten gehört, wo sich die halbe Mannschaft über Nacht krankgemeldet hat. Und es gibt auch noch Pflegekräfte, die gerade in Kurzarbeit müssen, zum Beispiel von Reha-Kliniken. Schließlich gibt es noch jene in Hotspot-Kliniken, die jetzt wirklich mit Corona konfrontiert sind und die ordentlich zu tun haben.

Wie nimmst du die Stimmung unter den Pflegekräften wahr?

Viele Pflegekräfte verharren in ihren üblichen Mustern, die jetzt noch krasser hervortreten. Viele sehen sich als Opfer, sagen „Wir sind die Allerärmsten”. Und dann gibt es jene, die sagen „Ich gebe trotzdem mein Bestes, weil wir gerade eine Notsituation haben”. In meiner Arbeit erlebe ich, dass viele Pflegekräfte so sozialisiert sind, dass sie sich stets in der Opferrolle sehen und gerne jammern, wie schlimm alles ist und was sie alles nicht wollen. Es geht wenig darum, was sie stattdessen wollen. Wir sollten die Zeit aber nutzen, um uns als fachlich höchst qualifizierte Experten zu positionieren.


Siehst du die Corona-Krise also auch als Chance?

Absolut. Vor allem im Sinne, dass wir jetzt Haltung zeigen. Wir sollten zu unserem Beruf stehen und uns bewusst sein, was wir alles können. Jede Pflegekraft weiß, worum es bei Corona geht, wir brauchen höchstens ein paar Zusatzschulungen. Wir kennen die Hygiene-Standards, wissen, wie man mit Keimen und Viren umgeht. Gleichzeitig wissen wir, was es bedeutet, wenn Patienten isoliert sind, wenn es um Leben und Tod geht, was Krisenmanagement bedeutet, was es bedeutet, sofort Entscheidungen treffen zu müssen. Das hat man in der Akutmedizin ja täglich. Ich würde mir wünschen, dass Pflegekräfte das anerkennen, was sie können und sich nicht immer als Opfer sehen. Wenn ich weiß, was ich kann, kann ich auch Forderungen stellen. Ich finde es auch immer so ein bisschen schade, wenn Leute aus dem Pflegebereich auf Social Media posten, dass sie die meiste Leistung erbringen und am wenigsten gewürdigt werden. Es ist aber falsch, Anerkennung und Lösungen immer nur von außen herbeizusehen. Wir können selbst sagen, was wir wollen und lösungsorientiert denken.

Wenn jetzt also jemand bei dir anruft, der sich gerade überfordert und von seinem Arbeitgeber schlecht geschützt fühlt, welchen ersten Tipp hast du dann für die Person?

Erst mal einen Moment innehalten und überlegen, um was geht es jetzt für mich? Was genau ist mein Problem? Nur dann kann ich es klar kommunizieren. Manchmal sind das ja ganz praktische Dinge. Was benötige ich, damit ich jetzt nicht ständig einspringe, weil ich auch Freizeit brauche? Was brauche ich, damit ich Nein sagen kann? Welche Schutzkleidung bietet mir mein Arbeitgeber und kann ich diese für mich akzeptieren? Diffuse Ängste kann man nicht klar kommunizieren und daher auch nicht einfordern. Es bringt auch nichts, immer nur zu sagen, was man NICHT will.

Was hilft mir dabei, jetzt Dinge einzufordern?

Es ist immer gut, ein ordentliches Gespräch mit der Stationsleitung zu führen. Außerdem ist es wichtig, dass man sich Kollegen als Verbündete sucht und als Team gemeinsam Forderungen stellt. Verbündete sollten aber bitte nur Kollegen sein, die positiv und konstruktiv denken. Wenn man sich gegenseitig bemitleidet, macht das die Sache noch schlimmer. Auch beim Chef führt das zu nichts. Der sagt dann, jetzt kommen schon wieder die Jammertanten. Das will sich niemand anhören, das kennt man ja auch von sich selbst. Man könnte im Team auch überlegen, ob es notwendig ist, den Betriebsrat miteinzubeziehen. Manchmal muss man auch selber nachdenken, um auf Lösungsansätze zu kommen. Vorgesetzte haben eher ein offenes Ohr für Lösungen oder Ideen als für diffuses Jammern.

Hand aufs Herz, wer hat denn Zeit für Selbstreflexion, wenn gerade wegen Corona Stress im Krankenhaus ist? Ist das der richtige Zeitpunkt, um zu überlegen, was ich eigentlich will?

Diese Zeit sollte man sich unbedingt nehmen. Es reichen fünf Minuten, um für sich mal eine innere Stopp-Taste zu drücken und kurz zu überlegen, „Moment mal, was mache ich hier eigentlich? Was schmerzt mich, was stresst mich?”. Das ist der erste Schritt, um zu gucken, was mit mir los ist. Man kann sich das auch kurz mal von der Seele schreiben. Das muss man danach nicht mal mehr durchlesen. Wichtig ist, dass man Pausen macht. Ich höre immer wieder von Leuten, dass sie nicht mal auf die Toilette gehen und nichts essen. Das ist ganz schlecht. An erster Stelle steht immer die Selbstfürsorge – außer, wir sind im Krieg. Aber das sind wir glücklicherweise nicht.

Lass uns kurz über die Pflegekräfte sprechen, die sich jetzt krankschreiben lassen. Ist das in der aktuellen Situation nicht unfair vielen Kollegen gegenüber, die jetzt alles abfangen müssen? Also ich wäre da ziemlich sauer…

Diese Missstände waren schon vorher da und kommen jetzt krasser zum Vorschein. Die Frage ist nur, was verändert sich für mich, wenn ich jetzt angepisst bin? Nichts. Das ist, wie wenn man die Blumen im eigenen Vorgarten zertrampelt. Da geht dann nur wieder die eigene Abwärtsspirale los, ich fühle mich schlecht und als Opfer an vorderster Front. Meine Empfehlung ist, einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen, wieviel ich realistisch in einer Schicht erledigen kann. Sonst muss ich einfach Nein sagen. Und dann kann ich es auch guten Gewissens lassen. Ich mache das, was ich kann und in meiner Kraft steht und wo ich niemandem schade.

Was sagst du zum Klatschen für Corona-Helfer? Bringt uns das weiter?

Es ist eine schöne Geste, die uns aber nicht weiterbringt. Wie so oft geht es darum, was passiert danach? Was passiert mit dem Applaus, hat sich in unserem Bewusstsein wirklich etwas verändert? Auch die Pflegekräfte müssen etwas in ihrem Bewusstsein verändern und hinterfragen. Das ist mein großer Wunsch.

Du möchtest selbst mit Silke Wüstholz über deine Ängste und Sorgen sprechen? MEDWING Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege bietet sie aktuell eine kostenlose Sprechstunde an: jeweils 20 Minuten nur für Dich – Hier geht es zur Anmeldung für einen Termin.

Julia Wagner

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