Gruselige Realität: Warum der Pflegenotstand zum Fürchten ist

100.000 Pflegekräfte fehlen. Wer bei dieser Zahl keine Gänsehaut bekommt, dem sei erklärt, was sie bedeutet.

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Leere, dunkle Flure, ein verwaister OP-Saal, Spinnweben im Schwesternzimmer. Verlassene oder von Gruselgestalten bevölkerte Krankenhäuser sind beliebte Kulissen für Horrorfilme. An Halloween schauen wir uns solche Filme gerne an. Wenn es zu schauerlich wird, sehen wir weg. Doch was ist, wenn der Horror zur Realität wird? Was ist, wenn wir im Krankenhaus alles andere als fachgerechte Pflege erleben? Nicht, weil die Pflegerin eine sadistische Serienmörderin ist, sondern weil sie schlichtweg keine Zeit für all die Patient:innen hat. Wenn sie auf dem Flur nach Verstärkung ruft, doch da ist niemand?

Deutschlandweit schlagen Pflegekräfte Alarm. Zum Beispiel Ingrid Greif, Betriebsratsvorsitzende der München Klinik. „Wir haben die große Sorge, dass das System jetzt kippt. Es steht vor dem Kollaps“, sagte sie kürzlich der Süddeutschen Zeitung. Oder die 239 Intensivpflegekräfte des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf. Sie schrieben Ende September einen Brandbrief an den Klinikvorstand. Eine der Mitarbeitenden beklagte anonym in der ZEIT, dass jede Pflegekraft für mindestens drei Intensivpatient:innen zuständig wäre, die permanent überwacht werden müssten. So käme es regelmäßig dazu, dass lebenserhaltende Medikamente erst in „allerletzter Sekunde“ nachgefüllt werden könnten.


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Hoffen, dass es nicht bei zwei Intensivpatient:innen gleichzeitig zu Komplikationen kommt. Pflegebedürftige stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen lassen müssen. Bettlägerige nicht ausreichend oft umlagern können, um sie vor Druckgeschwüren zu schützen. Das ist bitterer Alltag für die Pflegekräfte in den unterbesetzten Schichten. Bereits 2012 bestätigte in einer Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege jede:r Fünfte, Gewaltsituationen in der Pflege erlebt oder beobachtet zu haben. Dieser Umstand ist, genau wie freiheitsentziehende oder sedierende Maßnahmen, häufig der schieren Überforderung der Pfleger:innen geschuldet.

Zum Fürchten: der Pflegenotstand in Zahlen

Der Mangel an Kranken- und Altenpflegekräften ist erheblich. Laut Statistischem Bundesamt gibt es gut vier Millionen Pflegebedürftige in Deutschland, die von 1,7 Millionen Pflegekräften versorgt werden. Doch um fachgerechte Pflege für jede:n zu gewährleisten, bräuchte es im Moment über 100.000 zusätzliche Stellen, die logischerweise auch mit Pflegekräften besetzt werden müssten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Universität Bremen unter Leitung des Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Heinz Rothgang. „Im Moment sagt man, zwei von drei Männern und vier von fünf Frauen werden pflegebedürftig“, so Rothgang. „Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sich junge Menschen für Pflege begeistern, das ist eine riesige Zukunftsaufgabe. Sonst ist es tatsächlich finster.“ Aktuell sollte sich ein:e Altenpfleger:in um nicht mehr als acht Bewohner:innen kümmern müssen. Wenn sie den niedrigsten Pflegegrad haben. Doch selbst dieser Wert wird nur selten eingehalten.



Schon jetzt sind 22 Prozent der Deutschen älter als 65 Jahre. Wissenschaftlicher Prognosen zufolge soll der ungedeckte Personalbedarf 2030 aufgrund der steigenden Anzahl Pflegebedürftiger zwischen 350.000 und über 500.000 Pflegekräften liegen. Hinzu kommen die Krankenhäuser, in denen schätzungsweise zwischen 50.000 und 100.000 Krankenpfleger:innen fehlen. Auf einer Normalstation in Deutschland kommen im Schnitt 13 Menschen auf eine Krankenpflegekraft. In Großbritannien sind es der Hans-Böckler-Stiftung zufolge zum Beispiel nur 8,6 Patient:innen, in den Niederlanden 6,9. Zwar führte das Bundesgesundheitsministerium 2019 Pflegepersonaluntergrenzen ein, die mittlerweile für acht Krankenhausbereiche gelten. Doch diese orientieren sich an Kliniken, die mit einer vergleichsweise geringen Ausstattung „funktionieren“ und nicht am eigentlichen Bedarf. Theoretisch könnten Häuser, die schon vorher besser ausgestattet waren, ihr Personal nun sogar reduzieren.

Pflege zeigt sich unzufrieden mit der Politik

Zu einem massiven Personalabbau in den Krankenhäusern und einer „Privatisierungswelle“ hat laut Hans-Böckler-Stiftung das Fallpauschalen-System geführt, das 2004 eingeführt wurde. Erkrankungen und Behandlungen werden in „Diagnosis Related Groups“ (DRG) gruppiert, nach denen dann abgerechnet wird. Kritiker wie der Gesundheitsforscher Dr. Michael Simon von der Hochschule Hannover bemängeln, dass das DRG-System den Anreiz schafft, nur möglichst lukrative Patient:innen zu behandeln. Zudem beruhe die Berechnung nicht auf der Qualität der Behandlung, die auch durch die Personalausstattung beeinflusst wird. Schlimmer noch: Die Krankenhäuser haben Anfang der 2000er Jahre über 30.000 Pflegestellen abgebaut, um beim größten Kostenfaktor, dem Personal, zu sparen.

2018 lenkte die Politik ein und beschloss ein „Pflegebudget“ für die entsprechenden Personalkosten, das aus dem DRG-System ausgegliedert ist. „Die Ausgliederung der Pflegepersonalkosten und deren Finanzierung auf Grundlage der krankenhausspezifischen Selbstkosten ist aus meiner Sicht sehr sinnvoll und sollte beibehalten werden“, sagt Dr. Michael Simon zu dem Verfahren, das im letzten Jahr wirksam wurde.

Die Bundesregierung betont gerne, was sie für die Pflege erreicht hat. Tatsächlich wurden im Rahmen der „Konzertierten Aktion Pflege“ ein Maßnahmenpaket geschnürt und Gesetze erlassen, um dem Pflegenotstand entgegenzusteuern. Aber: „In der Altenpflege sind von den 13.000 Fachkraftstellen, die mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz geschaffen wurden, immer noch die Hälfte unbesetzt“, so Prof. Dr. Heinz Rothgang. „Von den 20.000 Assistenzstellen, die seit Januar dazugekommen sind, sind ungefähr drei Viertel noch unbesetzt.“ Zwar ist die Zahl der Alten- und Krankenpfleger:innen sowie der Pflege-Azubis in den letzten Jahren gestiegen. Wahr ist aber auch, dass viele der Auszubildenden nicht bis zum Ende durchhalten. Bei der DRK-Schwesternschaft verließen laut rbb24 in diesem Jahr 40 Prozent die Ausbildung im ersten Semester. An der Wannsee-Schule für Pflegeberufe schied knapp jede:r Dritte vorzeitig aus.

Auch mit der diesjährigen Pflegereform zeigten sich Interessenvertretungen der Pflegebranche unzufrieden. „Die Pflege muss zwingend eines der Kernthemen“ der neuen Regierung werden sagte Christine Vogler bei der Eröffnung des Deutschen Pflegetages am 13. Oktober. Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates forderte politisch konsequentes Handeln. „Die pflegerische gute Versorgung der Menschen in Deutschland ist bereits heute gefährdet.“

Zusammenhang zwischen Personalschlüssel und Sterberisiko: Der Fachkräftemangel ist lebensbedrohlich

Je weiter man in die Zukunft schaut, desto bedrohlicher das Szenario. Dr. Dorothea Voss leitet die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung und ist Expertin für Beschäftigungsbedingungen in der Pflege. Geht es so weiter, hält sie für das Jahr 2030 eine „Unterversorgungssituation“ nicht für ausgeschlossen. Dann könnte es sein, „dass notwendige Pflegemaßnahmen, die mit dem Grundgesetz in Verbindung stehen, zum Beispiel mit Artikel 1 – ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ – oder dem Sozialstaatsprinzip, nicht für jede:n gewährleistet sind“, so Dr. Dorothea Voss im Interview. „Und dann hängt gute Versorgung davon ab, ob ich arm oder reich bin oder auf dem Land oder in der Stadt wohne. Das betrifft dann auch einen Punkt, der für Deutschland eigentlich normal sein sollte, nämlich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.“



Viele Angehörige suchen vergebens ambulante Pflegekräfte. Bei einer Befragung von 535 Pflegediensten durch das Zentrum für Qualität in der Pflege gab 2019 über die Hälfte an, seit mindestens drei Monaten vakante Stellen zu haben. 13 Prozent kündigten sogar bestehende Versorgungsverträge, 80 Prozent mussten neue Anfragen ablehnen. Bei den stationären Einrichtungen sieht es nicht besser aus. Offene Stellen für examinierte Altenpflegekräfte bleiben im Bundesdurchschnitt 212 Tage unbesetzt.

Unterbesetzung sorgt in Pflegeheimen für gefährliche Zustände und ist im Krankenhaus ein konkretes Risiko für Leib und Leben. Eine umfassende Analyse der University of Pennsylvania kam 2016 zu dem Ergebnis, dass die Mortalität der Patient:innen steigt, je schlechter der Personalschlüssel und das Verhältnis zwischen Pflegefach- und Pflegehilfskräften ist. Gesundheitsforscher Dr. Michael Simon weist auf die Wichtigkeit der „kontinuierlichen Krankenbeobachtung“ hin. „Wenn Pflegepersonal überlastet ist und zu wenig Zeit für diese Aufgaben hat, kann dies dazu führen, dass Komplikationen entstehen, zu spät oder gar nicht erkannt werden und die Gesundheit von Patient:innen Schaden nimmt, bis dahin dass sie versterben.“

Lebensbedrohlich wird es auch, wenn ein Notfall gar nicht mehr versorgt werden kann, weil kein Bett zur Verfügung steht. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin befragten kürzlich 643 Intensivmediziner:innen zur Situation auf den Intensivstationen. Das Ergebnis: Jedes dritte Low-Care-Bett und jedes fünfte High-Care-Bett seien gesperrt, weil Fachpersonal fehle. „So verzeichnen wir wieder eine Einschränkung der Notfallversorgung und müssen geplante, schwere Operationen von Patienten verschieben“, sagte DIVI-Präsident und Intensivmediziner Gernot Marx in einer Pressemitteilung.

Teufelskreis Pflegenotstand: Personalmangel verursacht Berufsflucht

Mangel an Kolleg:innen sorgt für Mangel an Zeit. Verstärkt wird der enorme Zeitdruck durch die möglichst schnelle Entlassung der Patient:innen oder die minutengenaue Abrechnung von Pflegeleistungen. Das Kämmen der Haare soll nach dem Katalog für Pflegezeitbemessung eine bis drei Minuten dauern, ein Stuhlgang drei bis sechs Minuten. Dieser Druck ist in allen Pflegebereichen einer der Gründe für die Berufsflucht. Eine MEDWING-Umfrage unter 7.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen ergab im vergangenen Jahr, dass 38 Prozent der Teilnehmenden gelegentlich über einen Berufsausstieg nachdenken, 19 Prozent oft und 6 Prozent sogar andauernd. Ein Drittel war zum Zeitpunkt der Befragung aktiv auf der Suche nach etwas Neuem.

Die angespannte Personalsituation wird dadurch verschärft, dass ein erheblicher Teil der Kranken- und Altenpfleger:innen nur in Teilzeit arbeitet. Außerdem gehen laut Barmer Pflegereport überdurchschnittlich viele Pflegekräfte in Frührente oder sammeln Fehlzeiten an – vor allem aufgrund von psychischen oder Muskel-Skelett-Erkrankungen. 2016 bis 2018 waren krankgeschriebene Fachkräfte in der Altenpflege im Schnitt 18,6 Tage nicht arbeitsfähig, 40 Prozent länger als Beschäftigte anderer Berufsgruppen. Damit gehen dem Arbeitsmarkt temporär und langfristig weitere Pflegekräfte verloren.

Menschenwürdige Pflege fängt bei der Würdigung der Pflegekräfte an

Wer schon einmal auf die „systemrelevanten“ Fachkräfte angewiesen war, weiß, was es bedeutet, wenn sie nicht mehr da sind. Doch letztlich braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine Krise des Gesundheitssystems, wie es der Pflegenotstand ist, eine direkte Gefährdung der eigenen Sicherheit bedeutet. Und die der Menschen, die einem nahestehen.

Auch die MEDWING-Gründer Timo Fischer und Johannes Roggendorf beschäftigte diese Gruselvorstellung. Sie überlegten, was sie gegen den Pflegenotstand tun könnten und erkannten, dass ein gewaltiges Potenzial bei den Pflegekräften selbst liegt. Einige kleinere Studien und Umfragen haben sich mit der Rückkehrbereitschaft ehemaliger Pflegekräfte auseinandergesetzt. Zwischen 15 und 48 Prozent der Ex-Pflegekräfte könnten sich demnach vorstellen, den Beruf wieder aufzunehmen. „35 Prozent des bestehenden Pflegepersonals würden sogar mehr als beispielsweise nur halbtags arbeiten, wenn sie ihre Schichten selbstbestimmter planen können“, sagt Timo Fischer. Mit der kostenlosen Jobplattform MEDWING möchten er und Johannes Roggendorf genau dieses flexible Arbeiten ermöglichen und: „Pflegekräfte wieder in den Beruf zurückbringen, indem wir sie in den Mittelpunkt stellen und auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen.“



Die Löhne in der Pflege steigen. Die Regierung hat damit eine wichtige Säule geschaffen, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Damit Pflegekräfte nicht mehr in unterbesetzten Schichten arbeiten müssen und ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden können, braucht es jedoch weitaus dringender eine verbindliche und bedarfsgerechte Personalbemessung. Eine Arbeitsgemeinschaft von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat machte bereits Vorschläge zu einer modernisierten Pflegepersonal-Regelung (PPR 2.0).

Nicht zuletzt sind aber auch die Pflegekräfte selbst am Zug, sich für ihre Belange einzusetzen und nach der Corona-Krise sichtbar zu bleiben. Berufsverbände und Gewerkschaften können nur zu starken Sprachrohren der Pflege werden, wenn sich die größte Berufsgruppe im Gesundheitsbereich darin organisiert. Der Streik der Pflegekräfte an den Berliner Kliniken Charité und Vivantes war dahingehend nicht nur ein wichtiges Signal, sondern hat endlich Entlastungstarifverträge durchgesetzt. Diese sehen unter anderem bessere Personalschlüssel sowie einen finanziellen und zeitlichen Ausgleich im Falle von Mehrbelastung vor. Noch immer scheinen nicht alle Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen erkannt zu haben, dass sie sich bei der Pflege bewerben müssen, wenn sie ihre Stellen besetzen wollen, nicht umgekehrt. Dazu gehören verlässliche, vorhersehbare und flexiblere Arbeitszeiten.

Corona hat den Pflegenotstand ohne Frage verstärkt, aber die Pandemie darf nicht als Entschuldigung für die herrschenden Zustände gelten. Die Akteure der Pflege- und Gesundheitspolitik sowie des Gesundheitswesens müssen an einem Strang ziehen, um zu verhindern, dass sich der Pflegenotstand wie eine Schlinge immer enger um den Hals der Gesellschaft zieht. Der Personalmangel ist kein Horrorfilm, den man abschalten kann, sondern gruselige Realität.

Friederike Bloch

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