Interview: Warum jede Pflegekraft Kinästhetik lernen sollte

Begeistert von der Vielfältigkeit des Pflegeberufs möchte Friederike wissen, was Pflegekräfte bewegt. Dazu tauscht sie sich gern persönlich mit ihnen aus und lässt das Pflegepersonal in Interviews und Reportagen selbst zu Wort kommen.

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Als Pflegekraft hast du es täglich mit körperlich eingeschränkten Menschen zu tun. Du hebst sie aus dem Bett, unterstützt sie bei der Hygiene oder lagerst sie um. Das ist schwere Arbeit und geht auf den Rücken und die Gelenke. Umso wichtiger ist es, dass du deinen Körper schonst. Hier kommt die Kinästhetik ins Spiel. Diese Bewegungslehre hilft, sowohl die eigenen Bewegungsabläufe als auch die der Pflegebedürftigen bewusst wahrzunehmen und gezielt einzusetzen.

Ute Becker ist Kinästhetik-Trainerin bei einem großen Münchener Altenheimbetreiber und gibt im kleinen Rahmen freiberuflich Kurse. Mit ihren gut 20 Jahren Berufserfahrung weiß die ehemalige Krankenschwester und Pflegedienstleitung, worauf es bei der Kinästhetik ankommt und warum Pflegekräfte dabei nicht nur etwas über Körperhaltung, sondern auch über ihre innere Einstellung lernen.

Frau Becker, Sie schulen regelmäßig Pflegekräfte zur Kinästhetik. Hören Sie häufig „dafür bleibt im Arbeitsalltag sowieso keine Zeit“?

Ute Becker: Das höre ich zunehmend seltener. Mir ist es wichtig, dass Kinästhetik nicht nur eine Technik zum rückenschonenden Arbeiten ist, sondern eine Haltung, die ich den pflegebedürftigen Menschen gegenüber habe: Sie so zu unterstützen, dass sie möglichst viel selber tun können und in ihrer Selbstbestimmung zu fördern. Und ja, es dauert vielleicht auch mal länger, mit jemanden etwas zu üben. Aber dann haben Sie in der Langzeitpflege den unglaublichen Vorteil, dass die zu Anfang investierte Zeit hinterher um ein Vielfaches zurückgegeben wird. Zum Beispiel, wenn es jemand schafft, sich wieder alleine im Bett zu drehen oder bei Alltagsaktivitäten weniger Unterstützung braucht.

Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern geht es oft um die Kostenminimierung, für die diese zeitliche Effizienz auch eine Rolle spielt. Welche Argumente sprechen außerdem für Kinaesthetics-Schulungen?

Ute Becker: Die Arbeitgeber haben ja schon das Ziel, Mitarbeitende zu gewinnen und gesund zu erhalten. Die Achtsamkeit für die eigene Gesundheit schulen wir bei der Kinästhetik auch. Es geht weiterhin darum, dem Auftrag einer aktivierenden, rehabilitierenden Pflege gerecht zu werden und man kann damit Inhalte der Expertenstandards gut umsetzen. Förderung und Erhaltung der Mobilität gehören zum Grundlagenwerk oder auch die Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz.

Wie oft sollten Pflegekräfte Kinästhetik-Kurse absolvieren?

Ute Becker: In einem Grundkurs bekommt man die sechs Konzepte der Kinästhetik vorgestellt und übt sie. Es kommt nicht darauf an, möglichst viele Kurse zu machen, sondern das Erlernte in der Praxis anzuwenden. Ruhig erst nur bei einem Patienten oder bei einer Aktivität. Und dann gibt es Aufbaukurse, die das Wissen vertiefen und die Analysefähigkeit von Bewegung verstärken. Hilfreich sind auch Praxisbegleitungen durch erfahrene Kinaesthetics-Trainer:innen, da man nicht alles in der Laborsituation eines Schulungsraumes vermitteln kann.

Ich kann mir vorstellen, dass viele Senior:innen körperlich abbauen, weil ihre Bewegungskompetenzen in den Pflegeeinrichtungen nicht ausreichend gefördert werden.

Ute Becker: Viele Kolleg:innen wollen es den Pflegebedürftigen einfach machen und nehmen ihnen viel ab. Sie merken gar nicht, dass sie ihnen dabei die Chance nehmen, etwas selber zu tun. Eine häufige Rückmeldung von den Pflegekräften, die zwischen den Kurstagen in der Praxis waren, ist: „Ich wusste gar nicht, was meine Bewohner:innen noch alles können.“ Ich glaube, ein sehr hoher Prozentsatz schöpft das Potenzial nicht aus, sei es aus Zeitgründen, aus eigentlich guter Absicht oder aus der Routine heraus.



Können Sie Beispiele für kinästhetisches Arbeiten in der Praxis nennen?

Ute Becker: Ein klassisches Beispiel ist das Aufstehen. Wenn wir aufstehen, muss das Gewicht nach unten. Also muss ich meine Anleitung so gestalten, dass sich jemand nach vorne beugt, mit dem Gewicht auf den Füßen und sich dann aufrichtet. Ganz häufig erleben wir in der Praxis aber, dass Pfleger:innen die Idee haben, der Patient muss stehen und unter den Armen anfassen, um nach oben zu ziehen. Das ist für beide sehr anstrengend. Allein sich immer wieder zu verdeutlichen, wo ist das Gewicht und wo muss es hin, macht einen großen Unterschied.Für mich war es damals ein Aha-Erlebnis, dass ich davon ausgegangen bin, alle Menschen gehen auf die gleiche Art und Weise ins Bett, indem sie sich auf die Bettkante setzen, die Füße reinnehmen und sich hinlegen. So habe ich das gelernt und all die Jahre, die ich in der Pflege gearbeitet hatte, gemacht. In dem Kurs wurde mir deutlich, es gibt viele Menschen, die vorwärts in Bett krabbeln. Wenn ich aber die Idee nicht habe, dass man auch vorwärts ins Bett kommt, dann werde ich immer versuchen, die Person umzudrehen und sich auf die Bettkante setzen zu lassen. Dann muss sich der Mensch anpassen und wird wahrscheinlich völlig hilfeabhängig, weil er etwas komplett Neues lernen muss, was er vielleicht gar nicht mehr lernen kann. Wenn ich aber entsprechende Hilfestellung gebe, dann macht er es mit wenig Unterstützung und erfährt sich als selbstwirksam.

Wie reagiere ich als Pflegekraft, wenn jemand meine Vorschläge ablehnt und schlichtweg nicht mitmacht?

Ute Becker: Bleiben wir bei dem Beispiel. Die Bewohnerin hat Demenz und will vorwärts ins Bett krabbeln. Ich verstehe das nicht und will sie umdrehen. Da ist es leicht zu sagen, sie ist nicht kooperativ. Aber als Pflegekraft ist meine Aufgabe, zu verstehen, welchen Weg sie mir anbietet. Und wenn sie nicht will, dann will sie eben nicht, das ist Selbstbestimmung. Dann können Pflegekräfte Angebote machen, zum Beispiel etwas Attraktives hinstellen, damit sie sich vorbeugt, um danach zu greifen. Pflegekräfte lernen im Kinaesthetics-Kurs, dass sich ihre Spannung auf das Gegenüber überträgt. Da ist es besser, die Spannung rauszunehmen und beispielsweise gemeinsam zu singen oder zu tanzen. Dieser Mensch hat sich schon 85 Jahre lang bewegt. Ich muss es ihm nicht neu zeigen, sondern schauen, wie geht es unter den gegebenen Umständen mit den jetzt vorhandenen Einschränkungen.

Je älter und multimorbider die Menschen werden, desto größer ist oft ihre Bewegungseinschränkung. Um diese Herausforderung meistern zu können, dürfen Pflegekräfte ihren eigenen Körper nicht aus den Augen verlieren. Kinästhetik zu erlernen hilft dabei und beeinflusst nicht nur die äußere, sondern auch die innere Haltung positiv.

Interview: Friederike Bloch

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