Experteninterview: Wie Smart Home Systeme die Pflege erleichtern

Inspiriert von der faszinierenden Welt der Medizin und Pflege, möchte unser Redaktionsteam sich mit Fachkräften austauschen, Perspektiven aufzeigen mit Interviews und Reportagen, um die Vielfalt des Pflegealltags zum Ausdruck bringen.

Der zunehmenden Lebenserwartung der Deutschen steht ein Mangel an Pflegefachkräften entgegen. Die Personalkrise führt schon jetzt dazu, dass Pflegekräfte regelmäßig großen Belastungen ausgesetzt sind und mit der Arbeit kaum hinterherkommen. Dies gefährdet nicht nur die Gesundheit der Fachkräfte, sondern auch der zu pflegenden Menschen.

Digitale Assistenzsysteme, künstliche Intelligenz (KI) und andere technische Innovationen erlangen daher auch in der Pflegebranche immer größere Bedeutung. Sie ersetzen nicht die menschliche Interaktion, doch sie können in Bereichen, wo praktische Lösungen benötigt werden, für Entlastung sorgen.

Vom Exoskelett zum Heben schwerer Lasten über smarte Pflegebetten und Serviceroboter bis hin zu sprachgesteuerter Dokumentation entwickeln Technologieunternehmen Software und Hilfsmittel, die in der Pflege eingesetzt werden.

Eines dieser Unternehmen ist das Berliner Start-up HUM Systems. Dort wurde die digitale Sensorstation „Livy“ entwickelt. Ursprünglich nur im Smart Home Bereich eingesetzt, erweiterten die Expert:innen ihr Produkt schnell für den Einsatz in der ambulanten und stationären Pflege.

Wir haben mit Ali Reza Humanfar, CEO von HUM Systems und Erfinder von „Livy Care“, und Jan Flessau, Software Developer bei HUM, gesprochen. Wo liegen die Herausforderungen von Smart Home im Pflegebereich, wie wird der Datenschutz gewährleistet und wie bringt Livy Care den Pflegekräften konkret Entlastung? Diese Fragen beantworten sie uns im Interview.

Für meine Oma ist es schon schwer, zu verstehen, was das Internet ist. Geschweige denn Künstliche Intelligenz oder Smart Home. Reza, wie würdest du ihr Livy Care erklären?

Reza: Wir nennen unsere Livy Care Station am liebsten „smarte Aufpasserin mit hohem Datenschutz“. Sie verfolgt in erster Linie ein Ziel: Die Sicherheit von Pflegebedürftigen zu erhöhen und auf sie aufzupassen. Das heißt, dass Livy mit verschiedenen Sensoren ausgestattet ist, die mit Hilfe Künstlicher Intelligenz Erkennungen für zum Beispiel Sturz, Hilferuf oder Inaktivität ermöglichen.

Wenn wir Livy in Pflegeheimen installieren, erklären wir die Station selbstverständlich immer auch den Bewohner:innen und sagen: Wenn Sie zukünftig stürzen oder um Hilfe rufen, schickt das Gerät sofort einen Alarm an Ihre Pfleger:innen, damit Ihnen schnell geholfen wird und Ihnen einen Krankenhausaufenthalt erspart bleibt.



Wieso habt ihr euch dafür entschieden, euer Smart Home System mit speziellen Funktionen für den Pflegebereich zu erweitern?

Reza: Smart Home soll nicht nur Spaß machen, sondern idealerweise auch nützlich sein und Nutzer:innen entlasten. Wir bei HUM Systems fragen uns daher nicht in erster Linie: Was ist technisch möglich?, sondern: Was bietet den Menschen einen essentiellen Mehrwert und wie kann Technik dabei unterstützen? So sind wir ganz schnell auf die Pflege gekommen, denn sie ist völlig überlastet und so wie gut gar nicht durch smarte Technik unterstützt. Daher haben wir 2022 damit begonnen, die neuen Funktionserweiterungen auf die Sicherheit von Pflegebedürftigen und die Entlastung von Pflegenden zu konzentrieren. Unser Ziel ist es, eine würdevolle Pflege für alle zu ermöglichen.

Ist Livy Care nur etwas für stationäre Pflegeeinrichtungen oder können zum Beispiel auch Angehörige von Pflegebedürftigen das System zu Hause installieren?

Reza: Die Livy Sensorstation kann auch zuhause installiert und durch pflegende Angehörige über die Livy Home App genutzt werden. Allerdings bieten wir hier aktuell nicht den identischen Funktionsumfang wie im Livy Care Bereich. Wir stellen fest, dass der Umgang und die Ansprüche von Pflegepersonal im stationären Umfeld und pflegenden Angehörigen zuhause unterschiedlich sind. Das heißt, Livy Care ist darauf ausgerichtet, das Pflegepersonal in Einrichtungen zu unterstützen und zu entlasten. Die Funktionen und der Aufbau der App orientieren sich also konkret an den Ansprüchen der Pflegeeinrichtungen. Dabei halten wir uns an die gesetzlichen Vorgaben. Wir ermöglichen in Pflegeeinrichtungen zum Beispiel keinen Zugriff auf die Videokamera, sodass die Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte der Bewohner:innen und des Pflegepersonals zu jederzeit gewahrt werden.


Ali Reza Humanfar, CEO von HUM Systems


Pflegende Angehörige hingegen brauchen andere Lösungen und wünschen sich den Austausch mit ihren Liebsten, auch wenn sie nicht direkt vor Ort sein können. Dafür haben wir die Video-Livestream Funktion in der Home App. Darüber können Angehörige jederzeit nachsehen, ob alles in Ordnung ist, selbst wenn per Telefon niemand zu erreichen ist. Gleichzeitig erhalten sie Alarme, wenn ein Brand entsteht, eingebrochen wird und können über Bewegungsalarme auch die Aktivität oder Inaktivität der Pflegebedürftigen einsehen.

Könnt ihr Beispiele nennen, wie genau Livy Care Pflegekräfte unterstützt?

Reza: Auf die Pflegenden kommen zu viele Pflegebedürftige und das Personal arbeitet unter Zeitmangel bei erhöhtem Druck. Darunter leidet vor allem eines: die Pflegequalität. Im Pflegealltag bedeutet dies, dass die Pflegekräfte oft nicht die notwendige Zeit für pflegerische Maßnahmen haben und sämtliche Tätigkeiten minutiös geplant werden müssen.

Durch den Einsatz von Livy Care gewinnen Pflegekräfte mehr Zeit für die eigentlichen pflegerischen Tätigkeiten, da „Leerläufe“ im Klientenzimmer vermieden werden. Pflegekräfte wissen immer, wer gerade Hilfe braucht und können ihre Einsätze entsprechend der Dringlichkeit priorisieren. Dank der frühzeitigen Alarmierung durch Livy Care können Folgen von Unfällen vermindert und diese zum Teil sogar ganz verhindert werden. Dadurch werden nicht nur hohe Folgekosten vermieden. Das Personal wird vor allem psychisch entlastet, da das Risiko, einen Sturz oder einen entlaufenen Klienten mit Demenz zu spät zu bemerken, spürbar sinkt. Die Folgen eines Sturzes sind nicht nur für die pflegebedürftige Person eine Mehrbelastung, sondern stellen auch für das Personal einen Mehraufwand dar, da die pflegerischen Maßnahmen zunehmen. Livy Care bietet Pflegekräften also eine zeitliche, psychische und körperliche Entlastung.

Welche Hürden gibt es bei der Entwicklung KI-basierter Funktionen im Pflegebereich?

Jan: Pflege ist ein sehr sensibler und intimer Bereich, und die KI-Lösungen arbeiten mit gewonnenen Daten über den Wohnbereich oder die Vitaldaten der Menschen. Das heißt, vor allem das Thema Privatsphäre und Datenschutz spielen eine wesentliche Rolle und müssen genau beachtet werden.

Damit KI-basierte Funktionen präzise agieren und Fehlalarme ausgeschlossen sind, braucht es ein hervorragend trainiertes KI-Modell. Eine KI lernt und entwickelt sich durch die Sammlung und Verarbeitung von Daten.

Um zuverlässige Funktionen entwickeln zu können, braucht es folglich qualitativ hochwertige Datensätze, die am besten direkt aus dem späteren Einsatzgebiet stammen. Das ist aufwendig. Es erfordert vorab eine qualitative Kommunikation und entsprechende Einverständniserklärungen der beteiligten Personen. Der Zugang zu den gesammelten Daten, die man zur Entwicklung der Funktion nutzt, muss streng kontrolliert werden. Um dies zu garantieren, müssen entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden.


Livy Care


Die Pflegekräfte müssen mit dem System zufrieden sein. Nur dann wird es überhaupt genutzt. Dafür muss es einen Mehrwert bieten, der sich z.B. in einem reduzierten Arbeitsaufwand äußert. Gerade in der Einführungs- und Eingewöhnungsphase verursacht die KI-Lösung zunächst mehr Arbeit. Diese Phase muss überwunden werden, ohne die Akzeptanz unter den Pflegekräften zu verspielen. Personalmangel verschärft das Problem.

Ein weiterer grundlegender Aspekt sind die Kosten, die in die Entwicklung KI-basierter Funktionen fließen. Die Entwicklung der KI-Modelle, die Geräte zur Datenerfassung und Berechnung kosten eine Menge Geld, und oft müssen Daten eingekauft werden, da es unmöglich ist, alle Daten manuell zu erarbeiten. Bei der Entwicklung der Livy Hilferuferkennung war dies zum Beispiel notwendig, um die verschiedenen Stimmfarben, Alter, Tonalitäten usw. in ausreichender Menge simulieren zu können, um die KI zuverlässig zu trainieren. Regulatorische Anforderungen an Sicherheit und Genauigkeit steigern die Kosten zusätzlich.

Gleichzeitig müssen aus der Perspektive der Pflegeeinrichtungen die Kosten fürAnschaffung, Einrichtung und Betrieb in einem für sie günstigen Verhältnis stehen. Das im Vorfeld abzuschätzen ist nicht immer einfach, gerade weil KI in der Pflege ein relativ neues Feld ist. Am Ende ist es wichtig, dass die KI-Lösungen in bestehende Systeme integriert werden können und gewonnene Daten zusammenfließen und verarbeitet werden.

Aktuell macht der Chatbot ChatGPT Schlagzeilen. Nutzt ihr ChatGPT auch?

Jan: Wir nutzen ChatGPT derzeit nicht für unsere Funktionen. ChatGPT zu nutzen, wäre aktuell aus Gründen des Datenschutzes noch keine Option für uns, da dazu Daten an Server in den USA gesendet werden müssen. Dies spricht gegen unsere persönliche Datenpolitik.

Glücklicherweise gibt es aber bereits viele Alternativen an Open Source Modellen, die erstaunliche Ergebnisse liefern, jedoch selbst betrieben werden, womit das Senden der Daten an Dritte entfällt. Das ist uns persönlich sehr wichtig.

Wir planen den Einsatz solcher Open Source Modelle z.B. für die Intent-Detection (das Erkennen einer Absicht des Nutzers anhand von Text). Dazu nutzen wir ein Modell, um aus Sprache Text zu machen und ein weiteres ChatGPT ähnliches, um zu erkennen, was der Nutzer meint: Braucht er oder sie eine Information? Soll Hilfe gerufen werden, etc.? Das kann nützlich sein, wenn die KI anhand von Audio- oder Bilddaten eine problematische Situation wie etwa einen Sturz erkannt hat.

Wir wollen ermöglichen, dass Pflegebedürftige in der Zukunft auf eine explizite Anweisung verzichten und die KI den Kontext filtern kann und zum Beispiel einen Satz wie „Mir geht es gerade irgendwie nicht gut“ oder „Mir wird schwindelig“ bereits reichen, dass die KI reagiert. Dann kann Livy zukünftig die betroffene Person fragen, ob alles in Ordnung ist und Hilfe rufen, wenn dem nicht so ist oder keine Antwort kommt.


Pflegekraft erklärt alter Frau Tablet


Beim Einsatz von Smart Living und digitalen Systemen spielt Datenschutz eine große Rolle. Gerade, wenn die Pflegeeinrichtungen die Verantwortung tragen oder wenn zum Beispiel eine demente Person nicht selbst über die Installation entscheiden kann. Wie gewährleistet HUM Systems bzw. Livy Care den Datenschutz?

Reza: Wir nehmen das Thema Datenschutz sehr ernst und behandeln die empfindlichen Daten von Personal und Pflegebedürftigen mit entsprechender Rücksicht auf ihre Privatsphäre. Wir speichern daher nur Daten, die für die einwandfreie Nutzung von Nöten sind, und abstrahieren die Bilder der Kamera. Das heißt, wir machen die Person selbst unkenntlich. Der Großteil der Daten wird intern auf dem Gerät verarbeitet und verlässt dieses nicht. Die Daten, die extern verarbeitet werden, sind ausschließlich auf deutschen Server abgelegt. Wir möchten den Missbrauch und die Weitergabe sensibler Daten vermeiden und nutzen daher moderne Verschlüsselungstechnik und Hardware.

Wie fällt die Resonanz der Pflegeeinrichtungen auf eure smarte Technik aus? Wird Livy Care schon aktiv genutzt?

Reza: Livy Care ist bereits in verschiedenen Einrichtungen in Deutschland, Österreich und Großbritannien installiert. Wir arbeiten außerdem mit Partnern in der Schweiz zusammen. Die Resonanz ist dabei meistens die gleiche: „Danach haben wir gesucht.“



Vor allem das Thema Sturz verursacht jährlich erhebliche Kosten für die Einrichtungen und Krankenkassen, weshalb die Sturzprophylaxe einen besonderen Stellenwert einnimmt. Ebenso die Weglauftendenzen bei Demenzerkrankten. Für beide Anwendungen haben wir eine sehr effektive KI-basierte Lösung entwickelt, die deutlich präziser arbeitet als z.B. die herkömmlichen Klingelmatten. Die Fehlalarm-Quote ist bei Livy deutlich geringer als bei anderen klassischen Systemen, während gleichzeitig ein ganzer Raum gescannt werden kann und nicht nur ein kleiner Teilbereich.

Die Entlastung für das Personal ist deutlich spürbar – vor allem in der Nacht. Es kommt zu weniger schweren Sturzfolgen, weil das Personal schneller zur Hilfe sein kann und gleichzeitig wird früher bemerkt, wenn sturzgefährdete Klient:innen ihre Betten oder gar den Raum verlassen. Hier fühlen sich die Pflegekräfte durch Livy außerordentlich gut unterstützt.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen birgt riesiges Potenzial,Pflegeeinrichtungen und Pflegekräfte zu entlasten, hängt in Deutschland aber ziemlich hinterher. Was muss eurer Meinung nach passieren, um digitale Lösungen umfangreich einzusetzen und das Personal darauf vorzubereiten?

Reza: Aufklärung! Das ist uns persönlich sehr wichtig, denn in all unseren Gesprächen mit den verschiedenen Stakeholdern innerhalb der Pflege merken wir immer wieder eines: Es mangelt an Aufklärung und Wissen um die tatsächlichen Möglichkeiten und so stößt man erstmal auf Widerstand. Wir glauben, dass die Politik, Verbände und Kassen deutlich mehr leisten können, um Pflegende besser an die Hand zu nehmen und sie vorzubereiten und im engeren Austausch mit herstellenden Unternehmen arbeiten sollten.

Digitalisierung und technische Lösungen sollten ein fester Bestandteil der Ausbildung sein, denn sie tragen maßgeblich zur Pflegequalität bei und geben Pflegenden eine effiziente Entlastung. Digitale Lösungen gibt es bereits, nun müssen nur immer mehr Pflegende an Bord geholt und geschult werden. Wir glauben, dass durch die technische Komponente und das fundierte Fachwissen auch die Attraktivität des Berufes wieder deutlich steigen kann.

Der Einsatz digitaler Technologien birgt großes Potential für den Gesundheitsbereich. Hierzu muss in Förderprogramme investiert werden und in den Einrichtungen müssen Berührungsängste und Skepsis abgebaut werden. In der Digitalisierung liegt die Chance, Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Qualität der Patientenversorgung zu steigern und würdevolles Altern sicherzustellen.

Interview & Text: Friederike Bloch

Das könnte Dich auch interessieren:

Alle Artikel ansehen