Vor über 14 Jahren hat sich Stefan Heyde entschieden, nicht mehr in seinem Beruf als Rechtsanwaltsgehilfe zu arbeiten, machte er erst eine Ausbildung zum Arzthelfer, brach diese aber ab, als sich plötzlich die Uniklinik Saarland bei ihm meldete. Zwei Jahre zuvor hatte er seine einzige Bewerbung an dieses Krankenhaus geschickt, nun war eine Azubi-Stelle als Krankenpfleger frei.
Hier merkte er das erste Mal, dass Theorie und Praxis oft zwei paar Schuhe sind. So fing es an, dass sich der heute 39jährige dafür einsetzt, in der Branche etwas zu verändern. Mittlerweile ist Stefan Heyde vor allem für seine Initiative „Pflegekräfte in Not” bekannt. 2018 übergab er eine Petition mit über 12.000 Unterschriften an das Bundesgesundheitsministerium. Medwing sprach mit ihm, was sich seit dieser Petition geändert hat, was die Schwachstellen in der Pflege sind – und warum er trotz aller Probleme niemals einen anderen Beruf wählen würde.
Stefan, was macht den Beruf für dich persönlich so attraktiv, obwohl du dich hauptsächlich mit den Problemen der Branche beschäftigst?
Die menschliche Nähe, dieses Dasein im Alter, bei Krankheit und im Notfall. Das hat mich bewegt, in diesem Beruf zu bleiben. Ich habe unglaublich viele nette Menschen kennengelernt, die für diesen Beruf brennen, obwohl der Job sie ausbrennt. Ich war 2015 selbst an dem Punkt, wo ich gesagt habe, dass sich was ändern muss. Da der Ausstieg für mich nie in Frage kam, habe ich dann die Protestaktion aufgebaut und betreibe sie bis heute.
Warum war ein Ausstieg für dich nie eine Option?
Der Beruf ist unheimlich wichtig, weil wir alle irgendwann mal alt oder krank werden. Und dann brauchen wir wen, der uns zur Seite steht. Ich war auch nie jemand, der bei Problemen wegläuft. Ich habe in Heimen und Krankenhäusern Dienste erlebt, wo wir zu zweit im Spätdienst waren für 30 Leute. Ich kenne also die Überforderung. Ich wollte aber lieber in dem Job immer weiter nach oben komme und die Möglichkeiten haben, Einfluss zu nehmen, um die Arbeitsbedingungen für Leute zu verändern.
Hast du ein Patentrezept, wie man in diesem fordernden Job kein Burn-Out bekommt?
Mein damaliger Mentor während meiner Ausbildung hat immer gesagt, „Wenn deine Schicht vorbei ist, dann lässt du deine Probleme im Kittel im Schrank”. Das ist so ein Mantra, dass bei mir relativ gut funktioniert. Es wäre aber gelogen, wenn ich in 14 Jahren Pflege noch nie ein Problem mit nach Hause genommen hätte. Ein Ausgleich zur Arbeit ist wichtig, wie Sport, oder man betätigt sich sozial. Das trägt zur Balance bei. Man muss lernen, jeden Tag für sich die Grenzen zu ziehen, was schwer ist in einem Job, der von der Menschlichkeit lebt. Aber wenn der Arbeitgeber zum vierten Mal anruft und man kurzfristig seine Freizeit verschieben muss, muss man auch mal Nein sagen. Ich kenne Pflegekräfte, da sind die Ehen an der Schichtarbeit zerbrochen.
Du kritisierst ja, dass in der Pflege Theorie und Praxis weit auseinander klaffen...
Wir haben in der Pflegeschule gelernt, dass wir für einen Patienten in der Pflegesituation zwei Stunden Zeit haben: eine halbe Stunde Wagen vorbereiten, eine Stunde beim Patienten und eine halbe Stunde für die Nachbereitung des Wagens. Ich habe damals schon die Lehrerin gefragt, wie das im Alltag funktionieren soll, wenn man eine Station hat mit 20 Leuten. Das hat mir damals mehrere Besuche von Schulleitungen eingebracht. Sie meinten, ich solle den Lehrplan nicht anzweifeln. Es ist so schade, wenn man motiviert von der Ausbildung auf eine Stationen kommt, die Überforderung sieht und selbst als Schüler gleich überfordert ist. Man will ja nach dem Abschluss alles besser machen. Aber immer, wenn man eine Stufe aufsteigt, merkt man, dass sich nichts ändert, sondern schlimmer wird. Man hat mehr Verantwortung, kann aber nichts bewirken.
Was war der Anlass für dich, deine Aktion „Pflegekräfte in Not” zu starten?
Auslöser war die sogenannte „Uhr der Schande”. Ein an Parkinson erkrankter Mann ist in einem Pflegeheim in Rheinland-Pfalz nachts in der Toilette gestürzt und hat sich den Kopf an einem Heizkörper verletzt. Er ist dann in einem Krankenhaus seinen Kopfverletzungen erlegen. Der Grund, warum er überhaupt alleine auf die Toilette ging war, dass die Schwester nachts nicht mehr bei ihm vorbeischaute, nachdem er geläutet hatte. Die Uhr, die er zuletzt trug, wurde bei dem Sturz kaputt und ist um drei vor zwölf stehen geblieben. Das war ein trauriges Symbol für den Zustand in der Pflege. Das war dann der Moment, als ich mir einen Ruck gegeben und die Protestaktion gestartet habe, weil sich dringend was am Pflegenotstand ändern muss. Für die erste Petition habe ich 12.300 Unterschriften gesammelt und diese dann in Berlin, gemeinsam mit der „Uhr der Schande”, bei unserem Gesundheitsminister abgegeben. Das war im Juni 2018. Seitdem ist leider nichts passiert, es gab keine Reaktion.
Der Pflegenotstand ist ein akutes Problem. Warum verändert sich da so wenig?
Wir können nur was verändern, wenn wir uns zu einer starken Gemeinschaft zusammenschließen. Wenn wir es schaffen, uns in nur einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband zu organisieren und da eine gewisse Schlagkräftigkeit aufbauen. Die Pflege kann sich nur selbst aus dem Sumpf ziehen, wenn sie aktiv wird. Das haben die skandinavischen Länder sehr gut gezeigt, als 30.000 Krankenschwestern mit Kündigung am selben Tag drohten. Darauf wurden die Gehaltsforderungen ruck zuck umgesetzt. Die Möglichkeiten wären da.
Und warum werden diese nicht genutzt?
Viele Pflegekräfte verstehen nicht, dass die Gewerkschaften nur dann was machen können, wenn sie entsprechend viele Mitglieder haben. Gerade in der Altenpflege ist der Organisationsgrad aber extrem niedrig. ver.di als Gewerkschaft wäre für uns der logischste Weg. Stattdessen gibt es viele Zusammenschlüsse, Initiativen und Aktionen, die meist an persönlichen Differenzen scheitern und sich gegenseitig schwächen. Die einen arbeiten nur mit Leuten aus dem Berufsverband der Pflegekräfte zusammen, die anderen nur mit Leuten aus bestimmten Parteien. Am 12. Mai wurde z.B. auch der „Bochumer Bund” gegründet, hauptsächlich für akademische Pflegekräften, die sich wiederum als Alternative zu ver.di sehen. Wir hatten auch schon mal eine reine Pflegegewerkschaft und das ist schief gegangen, weil irgendwann keine Mitglieder mehr da waren. So kann man keinen Druck aufbauen. Es ist aber wichtig, dass man das große Ganze sieht, also auch die Situation für den einzelnen Bürger, der die Pflege irgendwann brauchen wird. Wenn man sich auf diesen gemeinsamen Nenner reduziert, dann schafft man so auch eine Zusammenarbeit.
Lass uns doch mal über Lösungen sprechen. Hast du eine Idee, wie man bessere Arbeitsbedingungen erreichen kann?
Es gibt die Möglichkeit, verschiedene Arbeitszeitmodelle auszuprobieren, etwa mehr Stellen über Teilzeit zu machen. Ich kenne ein Pflegeheim, wo sie zwölf Tage am Stück arbeiten und dann dementsprechend vier bis fünf Tage frei haben. Die Arbeitszeit ist ein ganz großes Thema, aber darum kann man sich nur kümmern, wenn man wiederum genug Personal hat. Das ist so ein Knackpunkt, denn wir kriegen erst mehr Leute in den Pflegeberuf rein, wenn er attraktiver ist. Und dann sind wir bei der Bezahlung. Ich sehe kein Problem darin, dass eine Krankenschwester beziehungsweise Pflegekraft 4000€ brutto verdienen soll. Das ist für mich ein absolut angemessenes Gehalt für die Verantwortung, die wir tragen. Wir arbeiten nicht mit Maschinen, sondern mit Menschen. Wenn wir Fehler machen, hat das meist schwerwiegende Konsequenzen oder jemand ist tot.
Mit der generalisierten Ausbildung soll der Pflegeberuf attraktiver werden. Siehst du das auch so?
Das ist ein guter Ansatz, aber wir machen immer gleich drei Schritte, bevor wir mal zuerst einen Schritt nach vorne machen. Ich glaube, durch die generalisierte Ausbildung werden noch weniger Fachkräfte in den Pflegeheimen landen. Da muss man realistisch sein. Welches Pflegeheim kann sich einen Pflegefachmann mit einem Bachelor- oder Masterabschluss leisten? Und welcher Pflegefachmann geht unter diesen Bedingungen in ein Pflegeheim? Im ambulanten Dienst werden diese Gehälter noch weniger bezahlt werden können, weil die ambulanten Pflegedienste zum Teil auch von den Verträgen leben müssen, die die Krankenkassen für bestimmte Tätigkeiten verordnen. Das sind ja zum Teil unter zehn Euro für eine Fachkraft. Dort wird sich dann der Mißstand verschärfen. Die hochqualifizierten Leute werden ins Krankenhaus gehen oder in die Forschung. Ich sage mal, dass die zu 90 Prozent nicht mehr am Bett landen werden.
Was wäre deiner Meinung nach in Sachen Ausbildung wichtiger gewesen?
Jedes Pflegeheim und jede Station im Krankenhaus muss erstmal genügend Mitarbeiter vor Ort haben, die eine hochwertige Ausbildung gewährleisten können. Im Nachhinein war die Uniklinik die beste Ausbildung, die ich kriegen konnte, weil einfach dementsprechend Personal vor Ort war. Wenn ich in die Pflegeheime gucke, wo ich war, dann müssen dort Auszubildende relativ schnell eigene Dienste übernehmen, ohne richtig dafür ausgebildet oder angeleitet zu sein. Wenn man die Qualität vor Ort erhöhen würde und die Anzahl der Ausbilder, hätte man auch eine Steigerung der Qualität.
Und wie kann man eine Wertschätzung herbeiführen für eine gesamte Branche, die du ja auch in deiner Petition forderst?
Die Wertschätzung hat durch das Klatschen während Corona ein bisschen Schaden genommen. Wertschätzung erreicht man nur, in dem man angemessen bezahlt, in dem man die Arbeitsbedingungen verbessert, man genug Personal hat und die Arbeitszeiten dementsprechend einhält. Pflege ist viel mehr, als die Öffentlichkeit denkt und die Politik uns immer glauben machen will. Die Politik sagt schon seit Jahren „Pflegen kann jeder”. Man hat schon ehemalige Schlecker-Mitarbeiterinnen in diesen Beruf reingesteckt oder Arbeitslose. Im Saarland sollten mal Steuerbetrüger in der Pflegebetreuung arbeiten. Es sollten auch mal Prostituierte in die Pflege gehen. Das war zynisch mit dem Hintergedanken dass die ja „schon Schlimmeres in ihrem Leben gesehen haben”. Wenn die Politik uns vermittelt, dass die Pflege ein Bodensatz der Gesellschaft ist, dann darf man sich nicht wundern, dass das Niveau sinkt und die Arbeit nicht wertgeschätzt wird.
Was wäre so schlimm daran, wenn jeder in der Pflege arbeiten kann?
Ich bin ein Fan davon, dass jeder, der diesen Beruf lernen will, ihn auch ausüben soll. Aber wenn es so ist wie in Hessen, wo die Zugangsvoraussetzungen für Pflegehelfer komplett abgeschafft wurden und jeder mit der einjährigen Ausbildung seinen Hauptschulabschluss bekommt, dann wirkt es, als ob die Pflege eine Resterampe wäre. Die Pflege ist wichtig und essentiell und mehr als alte Leute betütteln und ihnen den Arsch abputzen. Solange sich dieses Berufsbild in der Öffentlichkeit nicht ändert, solange wird sich auch nichts ändern. Gerade in der Altenpflege haben wir sehr viel Verfall an Qualifikation. Aber je mehr ausgebildete Fachkräfte da sind, desto mehr sinkt auch die Sterblichkeit. Dazu gibt es Studien.
Dank Corona-Krise gab es viel Aufmerksamkeit für die Nöte der Pflegekräfte. Jetzt hat man das Gefühl, das verebbt gerade wieder...
Ja, jetzt wird das Auge wieder gelenkt auf die Wirtschaft, die Lufthansa, auf die Bahn oder die Automobilindustrie, die Milliarden verloren hat und jetzt mit Zuschüssen und Milliardenkrediten unterstützt wird. Unsere 1500€ Sonderprämie sind Kleckerbeträge, die für die Pflege ausgeschüttet werden. Das ist noch nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Um diesen Tropfen wird sich auch noch so gestritten, und er wird so zerpflückt, dass am Ende nicht mal mehr was ankommen wird.
Lass uns mit etwas Positivem abschließen. Was kann jeder Einzelne für das Image der Pflege tun?
Es wäre schön, wenn sich die junge Generation mit der Thematik beschäftigen würde. Wenn man mit offenen Augen durchs Leben geht und sieht, dass es noch mehr gibt, als Social Media. Man wird älter und muss sich damit beschäftigen und sollte mehr Verständnis für bestimmte Berufsgruppen aufbringen. Wenn man als Angehöriger in ein Pflegeheim zu Besuch kommt und feststellt, dass die Mutter um halb elf noch immer nicht beim Yoga ist, dann sollte man nicht die Pflegekraft zusammenfalten, sondern erst mal nachfragen, warum das so ist. Meistens ist in so einem Fall die Pflegekraft alleine und irgendwas ist schief gelaufen. Es wäre wichtig, dass die Angehörigen nicht gleich Druck auf die Pflegekräfte aufbauen und dass Angehörige, Bewohner und Patienten sich nicht gegen die Pflege stellen, sondern gemeinsam etwas verändern wollen.
Interview: Julia Wagner