Gewalt gegen Pflegekräfte: Laut Umfrage 81 Prozent betroffen

Judith Marlies Barth
August 20, 2024

Für viele Pflegekräfte ist Gewalt am Arbeitsplatz keine Seltenheit, wie nicht nur eine Umfrage auf Twitter zeigt.

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    Judith Marlies Barth


    Für viele Pflegekräfte stellt Gewalt am Arbeitsplatz keine Seltenheit dar. Zu diesem Ergebnis kommt eine auf Twitter verbreitete Umfrage, an der mehr als 1.000 Klinikmitarbeiter:innen teilnahmen. Welche Ursachen die Gewalt haben kann, welche möglichen Folgen die Tätlichkeiten für Betroffene nach sich ziehen können und wie es um Präventions- sowie Schutzkonzepte steht, erfährst du hier.

    Die auf Twitter verbreitete Online-Umfrage zum Thema „Gewalt gegen Klinikpersonal" wurde in Eigeninitiative von Kathrin Hüster und Ramona Thiem erstellt. Während Hüster selbst 20 Jahre in der Pflege tätig war, arbeitete Thiem als Polizistin. Hüster, die sich heute für die Rechte von Pflegekräften einsetzt, musste in ihrem früheren Job selbst schon Gewalterfahrungen machen und äußerte gegenüber Zeit Online: „Fast jeder erlebt das. Ich habe schon in der Ausbildung Gewalt erfahren, sie hatte ihren Höhepunkt, als mir ein Skalpell im Oberschenkel steckte." In der von ihr mitinitiierten Umfrage gaben 81 Prozent der Befragten an, schon einmal Opfer eines tätlichen Angriffs geworden zu sein.

    Gewaltberichte unter dem Hashtag „#respectnurses"

    Anlass für die Online-Umfrage der beiden Frauen waren Schilderungen von Gewalterfahrungen und Bilder von Verletzungen, die Pflegende in den sozialen Medien unter dem Hashtag „#respectnurses" teilten. Die Bandbreite der dort beschriebenen Angriffe reicht von Fußtritten und Spuckangriffen bis hin zu harten Faustschlägen und Attacken mit Gegenständen. „Meine Vermutung war aufgrund dieser Tweets bei Twitter, dass das Dunkelfeld enorm ist", erklärte Ramona Thiem gegenüber Report Mainz.

    Ursachen von Gewalt gegen Pflegekräfte

    Die Auslöser für Gewalt gegenüber Pflegenden sind vielfältig. Häufig stehen aggressive Patient:innen unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol. Aber auch Nachwirkungen von Operationen oder künstlicher Beatmung können zu Verwirrungszuständen und somit zu aggressivem Verhalten gegenüber Klinikmitarbeiter:innen führen. Demente Patient:innen können aus Angst oder Überforderung mit einer Situation gewalttätig werden. Gleiches gilt für Menschen, die Traumata erlitten haben. Nicht zuletzt stellen unzufriedene oder übergriffige Angehörige eine Täter:innengruppe dar. Kathrin Hüster betont, dass als Haupttatort nicht etwa die Psychiatrie genannt werde. In erster Linie seien Normalstationen betroffen, dicht gefolgt von der zentralen Notaufnahme und den Intensivstationen.



    Ergebnis der Umfrage deckt sich mit früheren Studien

    Zwar ist die private Umfrage von Hüster und Thiem nicht repräsentativ, das Ergebnis deckt sich jedoch mit früheren wissenschaftlichen Studien wie der 2017 durchgeführten Survey der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Im Rahmen dieser Studie wurden 81 Betriebe mit 4.852 Beschäftigten zum Thema Gewalt in der Pflege- und Betreuungsbranche befragt. Das erschreckende Ergebnis: 94 Prozent der Befragten gaben an, von verbaler Gewalt betroffen zu sein. 70 Prozent berichteten von körperlichen Gewalterlebnissen.

    Gewalt in vielen Kliniken ein Tabuthema

    Obwohl die Problematik so verbreitet ist, werden die Angriffe von den Betroffenen nur selten zur Anzeige gebracht. Ein Grund dafür ist die Bagatellisierung der Übergriffe. Obwohl fast jede:r der Teilnehmenden beider Umfragen im Klinikalltag schon körperliche Gewalt erleben musste, werden die Angriffe heruntergespielt – meist mit der Begründung, dass es sich bei den Täter:innen schließlich meist um Kranke handele und Ausnahmesituationen nun mal zum Beruf dazugehören.

    In vielen Kliniken wird das Thema aus Angst vor einem Imageschaden tabuisiert. Werden Übergriffe von Betroffenen angesprochen, hat das nur selten Konsequenzen. Viele Pflegekräfte berichten, dass es kaum Hilfsangebote von Seiten der Arbeitgeber:innen gebe. Zwar bieten einige Kliniken Deeskalationstrainings an, die den Pflegenden dabei helfen sollen, kritische Situationen zu entschärfen. Jedoch sind diese nicht verpflichtend. Viel zu oft sind die Betroffenen auf sich allein gestellt.

    Mögliche Folgen für Betroffene

    Werden Gewalterlebnisse nicht aufgearbeitet oder nachbetreut, kann das jedoch weitreichende Folgen für die Betroffenen haben. Laut Claudia Vaupel, die als Psychotraumatologin zu dem Thema forscht, suchen Opfer von Gewalt die Schuld häufig bei sich selbst oder kommen gar zu dem Schluss, sie seien ungeeignet für den Beruf. Auch schwere psychische Erkrankungen und Beschwerden wie Depressionen, Schlafstörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen können die Folge sein.

    Präventions- und Schutzkonzepte dringend benötigt

    Verpflichtende Konzepte zur Vorbeugung von Gewalt und zum Schutz des Personals gibt es in den Kliniken bislang nicht. Zwar wurde im Februar 2021 ein Gesetz verabschiedet, das höhere Strafen für Angriffe auf medizinisches Personal vorsieht. Allerdings schließt die Regelung nur diejenigen ein, die in der Notfallversorgung arbeiten. Klinikmitarbeiter:innen aus anderen Bereichen profitieren nicht von der Verschärfung.

    Die Krankenhausgesellschaft sieht die Kliniken selbst in der Verantwortung und äußert gegenüber Report Mainz: „Die Gewaltbelastung in den Krankenhäusern ist je nach Standort sehr unterschiedlich. Insofern haben die Kliniken auch jeweils passende Konzepte entwickelt." Ein weiteres Problem besteht darin, dass Fälle von Gewalt momentan noch nicht systematisch erfasst werden, da ein Melderegister fehlt. Weder die Krankenkassen noch die Träger der Einrichtungen oder die Deutsche Krankenhausgesellschaft erheben Zahlen. Dies wäre aber wichtig, um der Politik vor Augen zu führen, wie groß der Handlungsbedarf ist.

    Anlaufstellen für Pflegende

    Solltest du selbst am Arbeitsplatz Gewalt erleben oder beobachten und nicht wissen, an wen du dich wenden kannst, findest du hier einige Anlaufstellen, die Hilfe und Beratung anbieten:

    In Deutschland hat jede:r das Recht auf einen Arbeitsplatz, der die eigene Gesundheit nicht gefährdet – das besagt das Arbeitsschutzgesetz und sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Diese Sicherheit zu gewährleisten und Pflegekräfte vor Gewalt zu schützen, ist Aufgabe der Arbeitgeber:innen. Es ist daher dringend erforderlich, dass die Kliniken Konzepte zum Schutz der Mitarbeitenden erarbeiten. Aber auch die Politik steht hier in der Verantwortung, Klinikpersonal durch Gesetze zu schützen, Übergriffe härter zu bestrafen und Präventionsprogramme zu fördern.

    Judith Marlies Barth


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