Fachkräftemangel, Personalflucht, Pflegenotstand. Der Personalmangel in der Pflege ist ein Problem mit vielen Namen und wenigen Lösungen. Fehlen Pflegekräfte, betrifft das nicht nur einen Berufssektor oder Wirtschaftszweig, sondern die ganze Gesellschaft.
Der Deutsche Pflegerat, Berufsverbände und Pflegeforscher:innen beschreiben regelmäßig die dramatischen Folgen, die der fortschreitende Pflegenotstand mit sich bringt – sowohl für die Pflegekräfte als auch für alle, die auf sie angewiesen sind. Und Patient:in oder pflegebedürftig werden früher oder später die meisten. Auch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung beschäftigt sich unter anderem mit dem Arbeitsmarkt und den Beschäftigungsbedingungen in der Pflege. Dr. Dorothea Voss leitet die Forschungsförderung der Stiftung, die Forschungsprojekte unterstützt, organisiert und begleitet. Im Interview erklärt die Expertin für Arbeitsbedingungen in Sozialberufen, warum der Personalmangel in der Pflege das Sozialstaatsprinzip gefährdet und was sich in Deutschland ändern muss.
Dr. Dorothea Voss: Dass die festgelegten Pflegestandards nicht eingehalten werden, mit allen Folgen für die physische und seelische Gesundheit der Pflegebedürftigen.
Dr. Dorothea Voss: Es kann sein, dass wir nicht genügend Infrastruktur und Fachpersonal haben und in eine Unterversorgungssituation kommen. Dass notwendige Pflegemaßnahmen, die mit dem Grundgesetz in Verbindung stehen, zum Beispiel mit Artikel 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – oder dem Sozialstaatsprinzip, nicht für jede:n gewährleistet sind. Und dann hängt gute Versorgung davon ab, ob ich arm oder reich bin oder ob ich auf dem Land oder in der Stadt wohne. Das betrifft dann auch einen Punkt, der für Deutschland eigentlich normal sein sollte, nämlich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Dr. Dorothea Voss: Wir sind der Meinung, dass die Trennung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung sozial ungerecht ist. Aus der Pflegekasse gibt es den gleichen Leistungskatalog für private und gesetzlich Versicherte, aber die Prämien für die private Pflegeversicherung sind sehr viel geringer. Das hat damit zu tun, dass die Summe aller Beitragszahler der gesetzlichen Pflegeversicherung älter und kränker ist als die Summe aller privat Pflegeversicherten.
Dr. Dorothea Voss: Die KAP war ein wichtiger Impuls, wenn man betrachtet, wie wenig Aufmerksamkeit die Pflege vorher bekommen hat. Aber im Gesundheitsbereich gibt es sehr viele Player und Interessen, der Teufel liegt im Detail. Oftmals ist es sehr zäh und kleinteilig, wie zum Beispiel auch bei der elektronischen Patientenakte. Und manchmal gibt es Veto-Spieler. Alle wollten beispielsweise die Allgemeinverbindlichkeit für Tariflöhne in der Altenpflege. Dann war es die Caritas, die gesagt hat, wir unterschreiben nicht. Obwohl es sie aufgrund ihrer vergleichsweise ordentlichen Lohnstruktur gar nicht nötig gehabt hätte.
Dr. Dorothea Voss: Ich finde, die öffentliche kommunale Pflegeinfrastruktur ist in Deutschland unterentwickelt. Manch andere Länder sind viel weiter, die Versorgung der älteren Bevölkerung in der Nachbarschaft zu organisieren. Die Gesellschaft sollte es mehr mit in das Leben einbeziehen und es gibt sicher viele Familien, die gerne ihren Teil tun würden, aber sie können es nicht alleine machen. Und dafür sollten auch die Digitalisierung und moderne Kommunikationsmedien genutzt werden, um diese Netzwerke stark zu machen.
Dr. Dorothea Voss: Die Pflegekräfte sollten sich stärker selber organisieren. Sie haben jetzt so eine gute Position und es ist auch schon besser geworden. Aber der Druck ist noch immer nicht ausreichend. Das hat natürlich Gründe. Es sind immer noch überwiegend Frauen, die auch in andere Lebensbereiche eingebunden sind. Das heißt, die Zeit ist eigentlich immer knapp. Oder sie sagen, wir können nicht einfach streiken, weil das Menschen gefährdet. Das Dritte ist, dass sie sich als Belegschaft nicht durchgehend sehen und austauschen können, weil sie oftmals teilzeitbeschäftigt sind und versetzt arbeiten.
Dr. Dorothea Voss: Was ich immer wieder höre, ist Arbeitszeitverlässlichkeit. Das sollte das Personalmanagement absolut ernst nehmen. Ständig aus dem Frei gerufen zu werden oder keine vorhersehbare Arbeitszeitplanung zu haben, ist eine totale Belastung. Ich erinnere mich an eine Studie mit migrantischen Pflegekräften. Eine spanische Pflegekraft, die nach Deutschland kam, hat sich total gewundert, dass es hier normal ist, aus dem Frei gerufen zu werden. In Spanien ist das anders organisiert – da gibt es einen Springerpool.
Die älter werdende Bevölkerung ist auf eine funktionierende pflegerische Versorgung angewiesen. Auch Krankenhäuser können ihren Versorgungsauftrag nur ausführen, wenn genügend Pflegepersonal zur Verfügung steht. Doch schon jetzt schließen Intensivstationen und können Heime ihre Zimmer nicht voll belegen, weil Pflegekräfte fehlen. Die Pflege ist ein Thema der aktuellen Koalitionsverhandlungen, aber eben nur eines von vielen. Es reicht nicht, abzuwarten und zu bewerten, was die zukünftigen Regierungsparteien dem Personalmangel entgegensetzen wollen. Die Arbeitgeber im Gesundheitswesen und nicht zuletzt die Gesellschaft müssen die Pflege als Zukunftsauftrag begreifen, der nur in gemeinsamer Verantwortung erfüllt werden kann.
Interview: Friederike Bloch