Warum die neue Ethikkommission für Pflegeberufe so wichtig ist

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Standest du bei deiner Arbeit im Gesundheitswesen auch schon einmal vor einer ethischen Frage? In solchen Fällen ist es gut Leitlinien und Ansprechpartner:innen zu haben, um mit schwierigen Entscheidungen nicht allein dazustehen. In ihrem Gastbeitrag für uns erläutert Pflegefachkraft und Influencerin Vanessa Schulte, warum Ethik in der Pflege mehr ist als ein „Nice to have“ und warum die erste Ethikkommission für Pflegeberufe in Niedersachsen ein wichtiges Zeichen setzt.

Es ist eine Frau im blauen Kasack zu sehen. Sie schaut mit einem leicht arrogant wirkenden Blick zur Seite. Unter ihr erscheint ein Text mit den Worten: „Sei immer nett zu einer Krankenschwester denn...“ In der nächsten Frequenz lächelt die Frau nun in die Kamera und tanzt zu Partymusik. Wieder erscheint ein Textblock, dieses Mal mit den Worten: „…die Größe des Katheters wählt immer noch sie!“

Dass dieses Video, das ich in den sozialen Medien gefunden habe, nicht den ethischen Standards des Internationalen Ethikkodex für Pflegefachkräfte (ICN Ethikkodex) entspricht, ist offensichtlich. Oder etwa nicht? Was ich als respektlos und höchst unprofessionell empfinde, scheinen einige Menschen so nicht zu teilen. Sie finden das Video anscheinend bedenkenlos und ethisch vertretbar, anders kann ich mir die vielen Lachsmileys darunter nicht erklären.
Weg von Social Media, hin zum Stationsalltag.

Herr Schmidt (Name geändert) ist ein 78-jähriger Mann, der seit vielen Jahren an Demenz leidet. Zu Beginn seiner Erkrankung hatte er nur leichte Gedächtnisprobleme. Doch im Laufe der Zeit wurden die Symptome immer schwerwiegender. Seine Frau unterstützt ihn rund um die Uhr bei allen täglichen Aktivitäten, aber für eine Schrittmacheranlage muss er nun in das örtliche Krankenhaus.

Die ungewohnte Umgebung, die vielen neuen Gesichter und die Tatsache, dass seine Frau nur stundenweise zu Besuch kommen kann, verängstigen Herrn Schmidt. Er ist sehr unruhig und entfernt ständig die EKG-Ableitungen sowie den Venenzugang in seinem Arm. Das Schlimmste jedoch ist, dass er durch seine Bettflucht die nötige Bettruhe nach der Schrittmacheranlage nicht einhält.

Diese Situation ist nicht ungewöhnlich für Menschen mit Demenz. Die Erkrankung kann dazu führen, dass sie sich in ungewohnten Umgebungen unruhig und ängstlich fühlen und sich weigern, medizinische Behandlungen oder Maßnahmen zu akzeptieren. So wie Herr Schmidt.

Ethische Dilemma in Kliniken und Pflegeheimen

Die Pflegekräfte und das ärztliche Personal sehen sich daher gezwungen, zum Schutz von Herrn Schmidt die Bettgitter hochzustellen und seine Hände zu fixieren. Ist diese Entscheidung ethisch vertretbar?

Als Pflegekraft kennst du solche oder so ähnliche Situationen sicherlich zur Genüge. Ich empfinde es jedesmal als eine große Herausforderung, eine angemessene Balance zwischen der Sicherheit meiner Patient:innen und dem Freiheitsentzug finden zu müssen. Einerseits möchte ich sicherstellen, dass der Patient oder die Patientin geschützt ist. Andererseits möchte und muss ich auch die Würde und Selbstbestimmung der Person respektieren.



Die Entscheidung, ob und wann freiheitsentziehende Maßnahmen eingesetzt werden, erfordert ein hohes Maß an ethischer Reflexion und Abwägung. Deswegen bin ich froh, dass ich als Pflegekraft in einem interdisziplinären Team arbeite, wo solche Fragestellungen gemeinsam diskutiert werden können. Auch der ICN Ethikkodex beschreibt praktische Anleitungen und Richtlinien, woran wir Pflegekräfte uns orientieren können. Er ist ein wichtiger Leitfaden für pflegerisches Personal auf der ganzen Welt.

Ethik ist nicht einfach nur ein Buzzword, welches oft eine inflationäre Verwendung findet, sobald es um pflegerelevante Themen geht. Nein, Ethik in der Pflege ist von entscheidender Bedeutung. Sie sorgt dafür, dass die Menschen angemessen behandelt werden. Und sie stellt sicher, dass wir die Rechte der uns anvertrauten Menschen respektieren, ihre Würde und Autonomie wahren und Achtung vor ihrer Individualität und Integrität zeigen.



Ethik stellt somit eine grundlegende Orientierungshilfe für uns dar, die in unserer täglichen Pflegepraxis eine unverzichtbare Rolle spielt. Zudem führt eine auf Ethik basierende Pflege zu einer höheren Zufriedenheit unserer Patient:innen und unterstützt ihren Genesungsprozess.

Erste Ethikkommission für Pflegeberufe in Niedersachsen

Insgesamt ist Ethik in der Pflege also nicht nur „nice to have“, oder eine Frage der Moral, sondern auch ein wichtiger Faktor für die Qualität der Pflege und das Wohlbefinden unserer Patient:innen. Daher ist es großartig, dass Niedersachsen in diesem Jahr die erste Ethikkommission für Pflegeberufe errichtet hat.

Die Kommission unterstützt uns Pflegekräfte dabei, schwierige ethische Entscheidungen zu treffen und sicherzustellen, dass die Patient:innen stets im Mittelpunkt stehen und zu jederzeit angemessen behandelt werden.

In Zeiten, in denen immer mehr Menschen aufgrund von Demenz oder anderen Erkrankungen auf Pflege angewiesen sind, wird die Bedeutung von Ethik in der Pflege immer größer und somit auch die Implementierung von weiteren Ethik-Kommissionen in Deutschland.

Die Arbeit der Ethikkommissionen ist von großer Bedeutung, insbesondere wenn es um schwierige Entscheidungen im Umgang mit vulnerablen Patient:innen geht. Denn neben dem Schutz dieser gilt es auch, die Interessen und Bedürfnisse ihrer Angehörigen und die der Pflegekräfte zu berücksichtigen.

In Fällen wie dem von Herrn Schmidt kann die Arbeit der Ethikkommission dabei helfen, alternative Maßnahmen zu finden, um ihn vor einer Selbstgefährdung zu schützen, ohne gleichzeitig seine Würde und Selbstbestimmung zu beeinträchtigen. Es gibt verschiedene nicht-freiheitsentziehende Alternativen, die in Betracht gezogen werden können, wie zum Beispiel eine erhöhte Aufmerksamkeit durch das Pflegepersonal, die Gestaltung des Umfeldes oder der Einsatz von Musiktherapie.

Eine individuelle Planung der Pflege und die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Vorlieben des Patienten kann dazu beitragen, dass Herr Schmidt sich sicher und geborgen fühlt. Durch eine reflektierte und ethisch fundierte Pflegepraxis können wir sicherstellen, dass wir unseren Patient:innen eine bestmögliche Versorgung bieten, die ihren individuellen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Dies trägt nicht nur zu ihrer Genesung bei, sondern fördert auch das Vertrauen in die Pflege und die Institution, in der sie versorgt werden.

Vanessa Schulte (Instagram: @vanessa.schulte_)

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